Die Karte Des Himmels
wiederum machte ihr ein schlechtes Gewissen.
Jude schob das Gefühl beiseite und wählte seine Nummer. Er nahm sofort ab, und ihr Herz machte einen Hüpfer, denn er klang, als würde er sich freuen, von ihr zu hören. »Komm heute Nachmittag vorbei«, sagte er, nachdem sie ihm alles erklärt hatte. »Im Moment sind die Handwerker da. Und ich versuche gerade, mein Schreibpensum für den Tag zu erledigen.«
»Hättest du was dagegen, noch mal mit mir auf den Turm zu steigen? Ich glaube, ich habe da oben neulich nachts ein Notizbuch vergessen.«
»Das wollte ich sowieso vorschlagen«, erwiderte Jude, »es könnte mir helfen, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Und wir müssen gute Argumente sammeln, um Starbrough Folly vor dem Abriss zu retten.«
Auf dem Weg sprachen sie darüber, wie sie vorgehen wollten. »Jemand muss unbedingt einen Bauingenieur hinzuziehen«, sagte Euan, »aber ich bin überzeugt, dass die Substanz des Turmes in Ordnung ist. Was allerdings seine historische Bedeutung betrifft, da bin ich leider nicht der Richtige, um das zu beurteilen. Das ist dein Fachgebiet. Ich bin für die Natur zuständig. In der Nähe des Turmes gibt es zahlreiche wichtige Insektenarten und Pflanzen.«
Als sie in das Turmzimmer hinaufgestiegen waren, konnte er das Notizbuch nicht sofort finden. Jude wartete, während er über die Leiter zur Plattform hinaufkletterte. Sie schlenderte zu einem Regal, in dem ein Stapel Bücher lag, und griff nach dem obersten, einem Taschenführer über Wildblumen in Großbritannien. Sie blätterte durch das Kapitel über Orchideen und staunte über den großen Unterschied zwischen wilden Orchideen und jenen exotischen wächsernen Schönheiten in den Blumenläden. Als sie das Buch zurücklegte, stieß sie gegen den darunterliegenden Band, und einige Seiten klemmten in dem Spalt an der Rückseite fest. Vorsichtig zog sie die Seiten heraus und rückte die Bücher beiseite, um sich die Wand anzuschauen. Sie sah auf den ersten Blick, dass der Ziegel dahinter gelockert war, und ahnte sofort, was es damit auf sich hatte. Jude nahm einen zerschrammten Blechlöffel, den sie in der Nähe auf einem Regal fand, rückte den Ziegel zur Seite und zog ihn heraus. Als sie sah, dass auch der Ziegel darunter locker saß, zog sie ihn ebenfalls heraus. Dahinter befand sich eine kleine Höhle. Grans und Tamins Versteck! Es sah leer aus – keine kleinen Botschaften oder Geschenke. Diese Ausbuchtung ist beim Bau des Turmes absichtlich angebracht worden, dachte sie, ob als Aussparung für eine kleine Lampe oder als Versteck, konnte sie nicht sagen. Mit den Fingern fuhr sie durch das Innere und bemerkte, dass es doch nicht leer war – drinnen lag ein dünnes schwarzes Päckchen. Sie kratzte mit den Fingernägeln darauf herum und stellte fest, dass es sich um alte, geölte Leinwand handelte. Ob das wohl etwas mit Tamsin zu tun hat?, fragte sie sich, während sie versuchte, das Paket auseinanderzufalten. »Verdammt«, flüsterte sie, als die Leinwand riss.
»Euan«, rief sie, als sie ihn hinter sich auf der Leiter hörte.
»Ich hab es gefunden«, sagte er und schob die Klappe wieder über die Luke. »Aber ein paar Seiten müssten gerettet werden. Sie sind ein bisschen durchgeweicht.« Er stieg die Leiter hinunter und kam zu ihr. »Was hast du da?«
Jude zeigte ihm das Loch und streckte ihm das Päckchen entgegen. »Kann sein, dass es nichts Besonderes ist«, sagte sie. »Ich glaube, dass Gran in ihrer Kindheit das Loch als Versteck benutzt hat.«
»Vielleicht doch«, entgegnete er, nahm ihr das kleine Paket ab und untersuchte es. »Wie merkwürdig!«
Es war etwas Besonderes, aber etwas, das aus einer viel früheren Zeit stammte als aus den Dreißigerjahren. Zurück in seinem Cottage legte Euan das Päckchen auf seinen neuen sonnenbeheizten Wassertank, damit es sich erwärmte. Danach war es leichter zu öffnen. Es enthielt ein gefaltetes pergamentähnliches Papier. Als Euan es vorsichtig mit seinem Taschenmesser auseinandergeschoben hatte, sahen sie, dass es aus zwei kleinen auseinandergerissenen Hälften bestand, die nebeneinander auf eine Postkarte gepasst hätten. Quer über beide Hälften war in verblasster sepiafarbener Tinte ein verzweigtes Diagramm skizziert.
»Was ist das?«, fragte Euan.
Jude nahm eine Hälfte in die Hand und starrte auf die Markierungen rund um den Kreis, auf die Linien, die die Kreise durchschnitten, auf die gekritzelten kleinen Symbole. »Es ist ein Horoskop«, erklärte sie
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