Die Karte Des Himmels
das alles für Quatsch gehalten. Aber er hat mir das Buch trotzdem geschenkt, weil er wusste, dass es mir gefallen würde.«
»Ich vermisse ihn immer noch schrecklich«, sagte Jude mit belegter Stimme.
»So geht’s mir auch.« Claire wandte den Kopf, um nach Summer und Emily Ausschau zu halten, die inzwischen auf dem Trampolin hüpften. »Neulich bin ich an der Kneipe in Norwich vorbeigefahren, in der ich gearbeitet habe. Ich weiß noch, wie ich ihn immer angerufen habe und er mich mit dem Auto abgeholt hat. Manchmal um ein oder zwei Uhr nachts. Nur um sicher zu sein, dass ich wohlbehalten nach Hause komme. Es war schrecklich, als er starb. Ich hatte das Gefühl, dass da ... ich weiß nicht recht, dass mir irgendwie der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.«
Jude versuchte, sich an die erste schreckliche Zeit zu erinnern, noch vor Marks Tod, auf den eine weitere schreckliche Zeit folgte. Als ihr Vater den tödlichen Herzanfall hatte, waren Mark und sie im Begriff gewesen zu heiraten. Trotzdem gab es so vieles im Leben, wofür man dankbar sein konnte. Nur was Claire betraf ... Claire war so ziellos durchs Leben gedriftet wie immer, zwischen Jobs und Männern und zurückgelassen in einer zu großen Nähe zu ihrer Mutter, die mit der Situation überhaupt nicht zurechtkam, und die beiden hatten sich gegenseitig fast um den Verstand gebracht.
Jude wartete darauf, dass Claire fortfuhr. Es kam nur selten vor, dass sie so miteinander sprachen – über tiefere Gefühle. Claire warf ihr oft bissige Bemerkungen an den Kopf, von der Art: »Mum redet mehr mit dir als mit mir«, statt ruhig und sachlich über ihre Ängste zu sprechen. Und so war es gekommen, dass ihre Gespräche oft in gegenseitigen Vorwürfen und Schuldgefühlen endeten. Jude konnte sich kaum an eine Zeit erinnern, in der Claire etwas anderes als ein kleines Knäuel aus Wut und Frustration gewesen war. Das kratzbürstige Kind entwickelte sich zu einem hübschen und eigensinnigen Teenager, der einerseits auf Judes Erfolge neidisch war, andererseits gerade deswegen auch verächtlich auf sie herabsah. Und jetzt stellten sie beide fest, wie sehr ihr Vater der Anker in Claires Leben gewesen war, ein freundlicher, geduldiger Mann, der dieses wilde Fohlen gezügelt hatte, ohne je seinen Willen zu brechen. Das hatte nie jemand versucht, und Claire hatte schließlich gelernt, sich zu beherrschen, als sie die Verantwortung für ein eigenes Kind übernahm.
Damals hatte Jude nicht im Geringsten ahnen können, dass Mark sterben und sie allein lassen würde. Dass Claire und sie in dem sonnendurchfluteten Wohnzimmer des kleinen Häuschens zusammensitzen und Claires heiß geliebte Tochter beobachten würden, auf die sie beide unglaublich stolz waren ...
In diesem Moment stürmte Summer mit ihrer Freundin herein. »Wir spielen oben weiter«, verkündete sie.
»Eine Viertelstunde«, rief Claire ihnen nach, »dann ist Schlafenszeit.« Sie blätterte in dem Astrologiebuch, bis sie eine Seite mit Illustrationen gefunden hatte. »Hier sind ein paar Diagramme, die nützlich sein könnten. Soll ich es mir später mal genauer ansehen?«
»Ja, bitte«, erwiderte Jude. »Was auch immer du herausfindest, könnte wichtig sein.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Ich muss bald aufbrechen«, sagte Jude. »Vielen Dank fürs Abendessen.«
»Gern geschehen«, erwiderte Claire.
»Ich gehe nach oben und verabschiede mich«, sagte Jude.
Auf dem Weg nach oben bewunderte sie Euans Bilder an der Wand. Um große Kunst handelte es sich nicht, wie sie sich eingestehen musste, aber hübsch waren die Bilder trotzdem. Er hatte die schimmernde weiße Rinde so klug platziert, dass sie aussah wie eine Baumgruppe, der Mond und die Sterne stachen an einem wunderbar kobaltdunklen Himmel in goldener und silberner Tinte zwischen den weißen Winterzweigen hervor. Sie fragte sich, für welches Buch er die Illustrationen verwendet hatte.
»Oh, nein, wie schrecklich ...« Summers Stimme drang zu ihr hinunter. Jude war sofort alarmiert, entspannte sich aber gleich wieder. Summer schien eine Geschichte über irgendeinen Unfall zu erzählen. Jude stieg die letzten Stufen hinauf und linste am Türrahmen um die Ecke. Emily lag auf dem Bett und schlug die Seiten eines Bilderbuches um. Summer saß auf dem Fußboden neben ihrem Puppenhaus. Sie spielte mit der Jude-Puppe, und die Claire-Puppe legte irgendetwas auf den Teppich.
»Armer Thomas«, sagte Summer beinahe schluchzend, »er ist tot. Wie kann ich
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