Die Karte Des Himmels
half bei allen praktischen Angelegenheiten und nahm Jude einfach nur in den Arm, wenn sie weinte. Aber Jude wusste, dass sie sich nur retten konnte, wenn ihr Leben wieder eine Struktur bekam. Nach drei Wochen war sie zu ihrer Arbeit zurückgekehrt, und dort war es leichter geworden.
Damals hatte Inigo noch nicht bei »Beecham’s« angefangen. Stattdessen gab es Gordon, einen sanftmütigen Charakter, der sich dem Ruhestand näherte. Klaus und er waren von der alten Schule, wenn es um Todesfälle ging – sie tätschelten ihr die Hand und bewahrten unerschütterlich Haltung. Es gab Leute, die das als kaltherzig empfunden hätten, aber wenn Jude im Büro war, kam es ihr vor, als würde sie sich in einer aufgeräumten Abteilung einschließen: Sie wusste, wo alles war und was sie zu tun hatte. Sie konnte Bücher katalogisieren und Sammlungen schätzen, sich in vertrauten Abläufen verlieren. Ihre anderen Kollegen wussten das im Großen und Ganzen zu schätzen. Jill vom Empfang schloss Jude nach ihrer Rückkehr herzlich in die Arme, und ein paar Kollegen legten zusammen und schenkten ihr einen Blumenstrauß. Aber danach respektierten sie ihre offenkundigen Anstrengungen, sich zusammenzureißen und weiterzumachen. Ab und zu geriet sie ins Straucheln, wenn ein wohlmeinender Bekannter ein paar Worte des Mitgefühls an sie richtete, die ihr schier das Herz zerrissen. Dann brachte sie sich auf der Toilette in Sicherheit, um die Fassung wiederzugewinnen. Denn außerhalb der brüchigen Schutzmauern, die sie um sich herum errichtet hatte, war die Welt nichts als das heulende Elend.
Schließlich stellte Jude fest, dass sie am besten zurechtkam, wenn sie bis zu einem gewissen Grad so tat, als wäre Mark immer noch am Leben, aber zurzeit eben nicht zu Hause. Dass er nur auf einer seiner Expeditionen war, einer seiner längeren Expeditionen, bei der man ihn per E-Mail oder Telefon nicht mehr erreichen konnte. Und so fing sie an, sich ihr Zuhause als kleinen sicheren Hafen vorzustellen, ließ seine Fotos an den Wänden hängen und räumte seine Kleidung nicht aus den Schubladen, so als ob er eines Tages wieder zurückkehren würde. Ein Therapeut hätte das wahrscheinlich für keine gute Idee gehalten, weil Jude die Trauer nur aufschob, aber das kümmerte sie nicht.
Es war erst ein Jahr her, dass Sophie, als sie aus den Staaten zu Besuch gekommen war, Jude davon überzeugt hatte, es sei an der Zeit, langsam loszulassen. An einem regnerischen Osterwochenende hatten Marks Schwester Catherine und Sophie ihr ruhig, aber entschlossen geholfen, die Kommoden und Schränke durchzusehen. Mit blassem Gesicht war Catherine mit einem Auto voller Koffer und Kisten losgefahren und hatte die Sachen auf das örtliche Obdachlosenheim und einen Wohltätigkeitsladen verteilt. Dann war Jude mit Sophie nach New York zurückgeflogen, wo sie eine wundervolle Woche in dem Apartment der Familie verbracht hatte. Sie war bis zum Umfallen auf Shoppingtour gegangen und danach jeden Abend essen. Es war nicht leicht gewesen, in ihr Zuhause in London zurückzukehren, und während sie ihre neuen modischen Kleider im Schrank verstaute und ein Poster der Frick Gallery im Flur aufhängte, beschlich sie das Gefühl, dass sie nur in eine andere Art von Trauer eintauchte, statt nach vorn zu schauen, wie alle Welt ihr geraten hatte.
All das erzählte Jude jetzt Chantal, weil sie wusste, dass Chantal weder über sie lachen noch Mitleid empfinden würde, sondern Verständnis. Und tatsächlich hörte die alte Lady aufmerksam zu, respektierte Judes Bedürfnis, zu reden.
»Ich kannte niemanden, der in meiner Lage war«, sagte Jude. »Wenn jemand in jungen Jahren auf tragische Weise stirbt, wissen die Leute einfach nicht, was sie sagen sollen. Wir alle wissen, dass es nicht hätte geschehen dürfen. Es war ein Unfall. Niemanden trifft eine Schuld, außer vielleicht Mark selbst, weil er sich auf diese gefährlichen Abenteuer eingelassen hat. Er kannte die Risiken. Und die Bemerkung darüber hing ständig in der Luft. Aber wer hätte ihn davon abhalten können? Ich jedenfalls nicht. Niemand. Seine Abenteuer bedeuteten ihm so viel.«
»Man muss die Menschen sie selbst sein lassen«, sagte Chantal. »Obwohl schwierig für Sie gewesen sein muss, mit ihm verheiratet zu sein. Jedes Mal, wenn er fort war. Die Sorgen. William hat kleine Flugzeuge geflogen. Ich habe mich geweigert, mitzufliegen, aber ich habe auch gelernt, eine tapfere Miene aufzusetzen.« Sie schüttelte den
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