Die Karte Des Himmels
kalkulierte Risiken gewesen. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte er sich immer an die Vorschriften gehalten. Als er starb, war der Fels unerwartet unter seinem Fuß weggebröckelt, sodass er ausgerutscht war und den nachfolgenden Kletterer mit sich in die Tiefe gerissen hatte. Sie waren nicht mehr als sechs Meter tief gestürzt, aber Mark war unglücklich aufgeprallt. Er hatte Pech, sagte die Bergrettung später. Viele Male hatte Jude es sich vorgestellt und versucht, den Horror aus ihrem Kopf zu verjagen. Der zweite Mann war mit einem gebrochenen Fußgelenk und ein paar Prellungen davongekommen.
Jude dachte an den jungen Partygänger und daran, wie es sich angefühlt hatte, zum ersten Mal mit Euan oben auf der Plattform zu stehen und hinunterzublicken. Sie schauderte.
21. Kapitel
In jener Nacht träumte Jude von dem Turm, wie sie endlos die Stufen hinaufstieg, höher und immer höher, ohne oben anzukommen, aber mit einer Gewissheit, dass es dort etwas Wichtiges gab, das sie zwang, weiterzugehen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie vollkommen sicher, dass der Starbrough Folly auf irgendeine Weise alle Antworten bereithielt. Auf Summers Träume, auf das Geheimnis um Esther. Alles lief immer wieder auf den Turm hinaus. Und nun war er in Gefahr durch Mr. Farrell und seine schrecklichen Pläne. Sie musste den Turm retten – sie, Jude! Es dauerte eine Weile, bis diese Zielstrebigkeit, die sie nach dem Traum empfunden hatte, wieder verflogen war.
Sie fühlte sich immer noch müde und bleiern, als sie mit dem Laptop auf ihrem vertrauten Stuhl in der Bibliothek Platz nahm. Eigentlich hatte sie vorgehabt, den nächsten Abschnitt aus Esthers Bericht zu transkribieren. Aber der Versuch, die Handschrift zu entziffern, verschlimmerte nur den stechenden Schmerz hinter ihren Augen, also gab sie es auf.
Stattdessen machte sie es sich auf dem Sofa bequem und grübelte über den Starbrough Folly nach und über all die Dinge, die dort über die Jahrhunderte geschehen sein mochten. Die Errichtung des Turmes hatte eine uralte Begräbnisstätte aufgestört, angelegt in einem jahrtausendealten Wald. In mancher Hinsicht war das ein ebenso schrecklicher Vandalismus wie der von John Farrell geplante Abriss des Turmes. Anthony Wickham hatte damals dort Nacht für Nacht in den Himmel geschaut. Vielleicht auch Esther, und der Ort atmete noch die Gegenwart der beiden. Über die Jahre mussten viele Menschen dem Starbrough Folly einen Besuch abgestattet haben, ob wegen der Aussicht oder auch nur wegen der Herausforderung, den Turm zu besteigen. Genau wie Geister gehörten solche Zierbauten zu den englischen Besonderheiten, die die üblichen exzentrischen Wirrköpfe anzogen. Und die gespenstische Atmosphäre trug zweifellos dazu bei, Starbrough Folly noch reizvoller zu machen. Jude stellte sich vor, wie Kinder sich gegenseitig anstachelten, den Turm hinaufzuklettern. Und noch andere Dinge waren dort geschehen. Die archäologische Grabung hatte die uralte Begräbnisstätte aufgestört. Der entsetzliche Todesfall im Jahr 1970 ... und das waren nur die Dinge, von denen sie wusste. Der Ort hatte bestimmt eine ereignisreiche Geschichte.
Doch längst ergab noch nicht alles einen Sinn. Es war schwer, alle Einzelteile logisch zu einem Bild zusammenzufügen. Vielleicht sollte sie zunächst herausfinden, welcher vorrömische Stamm dort seine Ahnen bestattet hatte. Jude machte sich im Geist eine Notiz, Chantal zu fragen, ob sie das wüsste. Dann musste sie zu dieser Frau im Museum in Norwich Kontakt aufnehmen, deren Namen – Megan irgendwas – die Bibliothekarin in Holt ihr genannt hatte, um sich über die archäologischen Funde zu informieren. Sie musste so viel wie möglich über Esther und deren mysteriöse Herkunft in Erfahrung bringen. War das Mädchen wirklich ein Findelkind oder doch die Frucht einer Liebschaft von Anthony Wickham? Oder es waren auch noch ganz andere Dinge geschehen – ach, sie konnte unmöglich sagen, womit sie anfangen sollte!
Vielleicht könnte sie ausreichend viele Informationen sammeln, um sie zu bündeln und den Turm zu retten. Euan konnte ihr vermutlich dabei helfen. Erstens wäre er in der Lage zu begründen, warum der Wald so wichtig war, und zweitens kannte er den Turm. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, ihn nicht zu oft zu besuchen, damit Claire nicht auf dumme Gedanken kam, sagte sie sich, dass es sich um eine wichtige Sache handelte. Die Aussicht, ihn wiederzusehen, war erfreulich, und das
Weitere Kostenlose Bücher