Die Karte Des Himmels
Wickham, möge seine Seele in Frieden ruhen, war bereits seit einigen Tagen tot, das Mädchen verschwunden und in situ Wickhams Schwester, eine keifende Harpyie namens Mrs. Adolphus Pilkington, nebst ihrem Mann und dem Sohn, einem dürren Bücherwurm namens Augustus. Niemand konnte sich an meinen Brief erinnern, in welchem ich zwei Tage zuvor meine bevorstehende Ankunft angekündigt hatte. Ich legte mein Anliegen dar: mehr über einen merkwürdigen Kometen oder Nebula zu erfahren, welchen Frau Esther am Himmel beobachtet hatte. Ich erklärte den Pilkingtons, dass ich den Herren von der Astronomischen Gesellschaft in der Angelegenheit geschrieben hätte, und diese hätten mich gebeten, der Sache nachzugehen. Mr. Pilkington, ein freundlicher Gentleman, der von der Gicht schrecklich hinkte, lud mich ein, mit ihnen zu dinieren, was wir bei Hackfleischpasteten und Kaninchenbraten in Zwiebeln ganz vorzüglich taten. Ich befragte meine Gastgeber und erfuhr eine betrübliche Geschichte. Wickham, ein kinderloser Junggeselle und eine Person mit eigenbrötlerischen Gewohnheiten, habe sich nach Art eines verrückten alten Mannes entschlossen, für ein armes Findelkind zu sorgen, welches er vor der Straße errettet hatte, und das Mädchen habe seine Reize genutzt, um ihn lammfromm zu machen und am Gängelband zu führen. Kürzlich erst habe er sie zu seiner Adoptivtochter ernannt. Seit dem schrecklichen Unfall im Turm, über den ich bereits unterrichtet war und der ihn hilflos zurückgelassen hatte, habe sie ihn zu ihrer Marionette gemacht und sich geweigert, seine geliebte Schwester und den bücherversessenen Neffen zu empfangen, welcher der rechtmäßige Erbe sei. An dieser Stelle murmelte Mrs. Pilkington undeutlich, dass das Mädchen in mancherlei Hinsicht mit dem Unfall zu tun gehabt habe, aber ihr guter Ehemann versicherte mir später im vertraulichen Gespräch, dass dafür keinerlei Beweise vorlägen. Ich erkundigte mich nach dem Verbleib des Mädchens. »Verschwunden« war alles, was sie sagten. Es scheint, als habe sie kurz nach Ankunft der Pilkingtons die Flucht ergriffen und als wisse niemand, wohin sie sich gewandt und ob sie irgendwelche Gegenstände oder Geld mitgenommen hatte. »Sie war ein niederträchtiges Mädchen«, behauptete Mrs. Pilkington mit Nachdruck, »und es ist gut, dass Starbrough Hall sie los ist.« Ich glaube, ich mag Mrs. Pilkington nicht.
Bei diesem Ausbruch ließ das Dienstmädchen, welches uns bei Tisch bediente, die beladenen Tabletts mit großem Getöse fallen und floh weinend aus dem Zimmer. »Da sehen Sie, wie es sie verstört, Esther auch nur zu erwähnen«, verkündete das keifende Frauenzimmer, als es sich erhob. Aber ich sah nur den blanken Hass in den Blicken, die der Butler ihr zuwarf, als er herbeieilte, um das Durcheinander zu beseitigen.
Mein Instinkt riet mir eindringlich, das Haus zu verlassen, aber meine intellektuelle Neugier war noch nicht befriedigt. Gibt es Notizbücher, so fragte ich, die ich konsultieren dürfte, meine Absichten betreffend? Mrs. Pilkington wusste es nicht – nach ihrem Tonfall zu urteilen, kümmerte es sie auch nicht. Sie erteilte mir jedoch die Erlaubnis, Anthony Wickhams Bibliothek zu betreten. Sofort überwältigte mich die Schönheit des Raumes, seine ungewöhnliche ovale Form und das breite Spektrum der Gelehrsamkeit, die in den Regalen versammelt war. Begierig wie eine Kuh im grünen Klee weidete ich mich an den Regalen, zog eine Wonne nach der anderen heraus, untersuchte dann die Sammlung von Fernrohren und staunte, wie er solche wunderbaren Instrumente aus jenen Linsen hatte konstruieren können, welche ich ihm geschliffen hatte. Dass ich ihm vor seinem Tode nicht begegnet war, erschien mir plötzlich tragisch und das mysteriöse Verschwinden des Mädchens ein verfluchtes Ärgernis und noch dazu verwirrend, denn ich erkannte, dass die Pilkingtons mir etwas verheimlichten. Allein, was konnte ich – nicht mehr als ein Bekannter eines verstorbenen Mannes – dagegen ausrichten? In einem der Regale entdeckte ich mehrere Journale. Zwei weitere lagen auf dem Tisch. Ich sah sie durch und notierte den Inhalt. Aber der jüngste Eintrag lag bereits über ein Jahr zurück, und das merkwürdige Himmelsobjekt, über welches das Mädchen mir berichtet hatte, fand keine Erwähnung. Ich war überzeugt, dass es noch ein jüngeres Journal geben müsse, doch meine Suche erwies sich als fruchtlos.
Meine Arbeit hier war getan.
»Sofern das Mädchen Esther wieder
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