Die Karte Des Himmels
bewegliches Hab und Gut wurden Esther Wickham vererbt, ›meiner Adoptivtochter‹. Die Dienstboten stießen gemeinschaftlich einen Seufzer aus, als Mr. Wellbourne die Papiere auf den Tisch legte und die Brille abnahm. Susan fing meinen Blick auf und lächelte. Mr. Corbett zwinkerte mir zu – wirklich und wahrhaftig, so war es, ich schwöre. Ich schaute Alicia an. Ihre Miene war so reglos wie ein heißer Sommertag vor dem Gewittersturm. Aber ich erkannte den bedrohlichen Hauch einer Wolke in ihren Augen und wusste, dass größte Gefahr im Verzug war.
Am entgegengesetzten Ende des Tisches räusperte sich Mr. Atticus und ergriff das Wort. »Mistress Pilkington, Mr. Pilkington, Mr. Wellbourne, wenn ich dürfte. Ich muss dieses Testament sogleich für null und nichtig erklären.« Das Zimmer fiel in ebensolche Starre, wie sie draußen im gefrorenen Park herrschte. »Wie Sie erwähnten, Sir, ist das Testament im vergangenen April aufgesetzt und unterzeichnet worden. Allerdings geschah dies erst nach Mr. Wickhams Sturz und dem Schlag, welcher ihn schließlich das Leben kostete. Ich bin der festen Überzeugung, dass er nicht mehr bei klarem Verstande war. Ich halte den schriftlichen Beweis des Doktors in der Hand, der ihn behandelt hat.«
»Dr. Brundall?«, rief Mr. Wellbourne. »Aber er ist doch einer der Zeugen dieses Dokuments.«
›Hier sehen Sie seinen Brief, datiert auf den dreißigsten des vergangenen April.‹ Mr. Atticus hielt ein einzelnes Blatt hoch. ›Es ist die Antwort auf einen Brief, den Mrs. Pilkington in Sorge um den Zustand ihres Bruders an ihn richtete. Ich zitiere: Ich gebe Ihnen den Rat, den Besuch Ihres Bruders hinauszuschieben, da er immer noch schwach, leicht ermüdbar und gelegentlich geistig verwirrt ist.
»Ich sage Ihnen doch«, wiederholte Mr. Wellbourne, »dass Brundall das Testament beglaubigt hat. Warum hätte er das tun sollen, wenn er davon überzeugt war, sein Patient sei nicht klar bei Verstand? Wir müssen ihn befragen, um die Angelegenheit zu erhellen.«
Und so setzte sich der Streit immer weiter fort. Mr. Atticus verlangte jenes Testament im Original zu sehen, von dem Mr. Wellbourne berichtet hatte, dass es vor meiner Ankunft aufgesetzt worden sei, aber Mr. Wellbourne hatte es in Norwich liegen gelassen. Alicia warf ein, dass es ihr eine Ehre sei, das Erbe der Dienerschaft in dem neuen Testament zu berücksichtigen, was die Stimmung in manchen Ecken des Zimmers hob, meine allerdings nicht. Die Angelegenheit wurde vertagt, bis das alte Dokument aufgefunden sein und Dr. Brundall eine eidesstattliche Versicherung abgegeben haben würde. Der Tischler traf mit dem Sarg ein, und so wurde die Versammlung aufgelöst.
In jener Nacht saß ich eine Stunde bei Vater im Zimmer. Er wurde in seinen besten Anzug gekleidet und so in einen offenen Sarg gelegt, als würde er nur schlafen. Ich weinte um ihn und küsste ihn zum Abschied, denn am nächsten Tag sollte der Leichenwagen eintreffen. Dann würde der Sarg verschlossen werden, und wir würden ihm auf den Kirchhof folgen, wo er – der Astronom, dessen Blick über das Firmament geschweift war und die entferntesten Gebiete des menschlichen Geistes erforscht hatte – in einem dunklen Loch begraben werden würde, welches man aus dem gefrorenen Erdboden gehauen hatte. Um elf Uhr zog ich mich in mein Zimmer zurück. Erschöpft von den Ängsten und Sorgen des Tages sank ich in einen traumlosen Schlaf.
An dieser Stelle war die Handschrift weniger gefestigt und manchmal wie durch Tränen verschwommen. Jude hörte auf zu lesen und richtete den Blick in die Ferne. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es für Esther gewesen war, erst ihren geliebten Vater zu verlieren und dann das Gefühl zu haben, mit ihm auch alles andere verloren geben zu müssen. Entsetzlich! Sollte sie weiterlesen oder das Stück transkribieren, das sie gerade gelesen hatte? Weiterlesen, beschloss sie, aber es klopfte an der Tür, und Euan trat ein.
»Lass dich nicht stören«, sagte er, »ich will eigentlich zu Robert. Ich wollte mich nur vergewissern, dass du heute Abend dabei bist. Fiona und ihr Mann kommen zum Abendessen, und ich habe Claire versprochen, dass sie sich im Zelt über Gesellschaft freuen kann.«
»Und für Claire geht das in Ordnung?«, fragte Jude.
»Ich nehm’s an. Warum auch nicht?«, fragte Euan überrascht zurück.
»Ach, nur so.« Jude wechselte das Thema. »Euan, ich habe noch ein paar Seiten gefunden, die zu Esthers Tagebuch gehören. Schrecklich
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