Die Karte Des Himmels
Gesichter – alle warteten gespannt auf das, was Euan ihnen zeigen würde. Es war wunderbar, diese Gruppe von Menschen zusammen zu sehen – ihre Familie, die langsam wieder mit sich ins Reine kam, nachdem so viele Geheimnisse aufgedeckt worden waren.
Durch einen kurzen Moment hatte sie ihre Mutter in einem ganz anderen Licht sehen gelernt. Nicht nur die selbstbezogene, eher extrovertierte Frau, die ihr Dasein als Mutter als nervenaufreibende, verwirrende Angelegenheit empfunden und die Verantwortung in erster Linie ihrem Mann zugeschoben hatte, sondern eine ziemlich verletzbare Frau, die nach einer frühen Tragödie niemals ganz zu sich selbst zurückgefunden hatte. Jude erinnerte sich, wie Valerie nach Dads Tod auf dem Tiefpunkt angelangt war und Claire und sie gezwungen gewesen waren, die eigene Mutter zu bemuttern. Der unerwartete und schmerzliche Verlust musste die Wunde wieder aufgerissen haben, die Martys Tod geschlagen hatte. Und der Verlust eines Kindes konnte ebenfalls noch lange nachwirken.
Jude sah hinüber zu Jon und Frank, die auch bald zur Familie gehören würden, falls Jons Fürsorglichkeit für Summer und Claire nicht vorübergehend war. Und dann gab es noch ihre neuen Freunde in Starbrough Hall. Es tat ihr in der Seele weh, dass die Planetenmaschine und all die anderen Instrumente und die Bücher schon bald in Kisten verpackt und in ihr Büro nach London geschickt werden würden. Traurig – und doch waren die Wickhams sehr mit ihr zufrieden. Sie hatte professionell gearbeitet. Auch sie sollte mit sich zufrieden sein, denn für »Beecham’s« würde es ein sehr erfolgreicher Verkauf, das spürte sie instinktiv. Es gab keinen Grund, sentimental zu werden.
Und jetzt schaute sie zu Euan auf, dessen Gesicht im Schatten lag und wie das eines Zigeuners wirkte. In seinen Augen glitzerte das mitternachtsblaue Charisma eines Magiers, der ihnen die Wunder der Welt erklärte und einen unsichtbaren Umhang schwang, während er sich verbeugte. Sie konnte kaum den Blick von ihm wenden. Und dann sah er sie an, und seine Augen sandten ihr ein Lächeln, das wie ein Geheimnis zwischen ihnen schwebte. Als Erwiderung senkte sie kaum merklich die Lider und spürte, wie eine prickelnde Energie durch ihren gesamten Körper strömte. Marks Gesicht tauchte in ihrem Kopf auf, aber es war verschwommener als früher. Sie konnte sich kaum an seine Züge erinnern und ließ das Bild zerfließen. Aber es brachte sie doch ein wenig aus der Fassung. Sie wollte nicht mit Euan den gleichen Fehler machen wie mit Caspar. Euan war etwas Besonderes. Es wäre nicht gut, ihn noch mehr zu verletzen, als er ohnehin schon verletzt worden war. Inzwischen hörte sie seinem Vortrag kaum noch zu, sondern löste sich still von der Gruppe und setzte sich neben Gran.
»Das war ein wunderschöner Tag!«, sagte Jessie und tätschelte ihr die Hand. »Dieser Junge, Franks Sohn, das ist ein guter Junge. Das kann ich sehen. Meinst du, es wäre falsch, zu hoffen ... für Claire, dachte ich.«
»Ganz und gar nicht, Gran. Aber bis jetzt hat noch niemand Claire vorschreiben können, was sie tun soll. Lass uns hoffen, dass er sie anlocken kann.« Wie ein Nachtfalter, der ins Licht flattert, oder wie eine Forelle, die geködert wird, dachte Jude und merkte, dass Euan wohl solche Metaphern benutzen würde.
»Ich weiß nicht, warum deine Mutter ausgerechnet jetzt mit all dem herausgerückt ist. Ich war immer überzeugt, dass man diese Dinge am besten vergessen sollte. Das Leben geht weiter. Obwohl ... also, diese Geschichte mit Tamsin. Weißt du, jetzt geht es mir besser damit. Der Gedanke daran saß immer wie ein harter Knoten in mir, genau hier, aber nun ist es leichter. Vielleicht geht es Valerie auch bald so.«
Jude drückte Gran zustimmend die Hand. Dann fiel ihr etwas ein. »Sag mal, Gran, hast du eigentlich jemals merkwürdige Träume gehabt, als du ein kleines Mädchen warst? Träume, in denen du durch den Wald gerannt bist.«
Gran schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Oder sonst jemand in unserer Familie? Wenn du weiter in der Zeit zurückgehst. Deine Mutter zum Beispiel.«
»Sie hat nie so was erwähnt, soweit ich mich erinnern kann.«
»Dann war ich also die Erste.« Warum? Warum war Esthers Geschichte in diesen Wochen aufgetaucht, zwei Jahrhunderte nach ihrem Tod, wann genau auch immer das gewesen sein mochte?
Später am Abend, als sie oben in ihrem Bett lag und über alles nachdachte, was an diesem bedeutsamen Tag geschehen war, fiel es ihr
Weitere Kostenlose Bücher