Die Karte Des Himmels
Ihren Mann verloren haben. Ich habe das Gleiche erlebt. Mein Mann ist vor vier Jahren gestorben.«
»Oh, meine Liebe«, murmelte Chantal und schlug sich die Hand auf den Mund, »dabei sind Sie noch so jung!«
»Ich war dreißig«, sagte Jude. Es kam ihr vor, als läge alles schon eine Ewigkeit zurück. Damals war sie noch ein ganz anderer Mensch gewesen. »Es ist bei einem Kletterunfall passiert.«
Schon während sie das sagte, spürte sie auch nach all den Jahren, wie sie der Schock jenes furchtbaren Moments wieder traf. Sie war hinter einem Polizeiwagen her über ihre Straße nach Hause gefahren. Er hielt vor ihrem Haus. Sie hatte ihr Auto neben dem Polizeiwagen geparkt, war mit zitternden Beinen über den Gartenweg auf den jungen Polizisten zugegangen, dem die grauenhafte Nachricht ins Gesicht geschrieben stand. Sie blinzelte, um das Bild zu verscheuchen, und sah, dass Chantal sie besorgt anstarrte.
»Ein Unfall. Das ist schrecklich«, flüsterte Chantal. »Es tut mir so leid!«
»Ihr Mann ...«, sagte Jude sofort und versuchte verzweifelt, ihren eigenen Schmerz wegzuschieben, den Schmerz, der sie innerlich zerreißen konnte, ganz plötzlich, sogar jetzt.
»William war über mehrere Jahre krank«, sagte Chantal leise. »Der Krebs ist immer wieder zurückgekehrt, bis er schließlich«, sie breitete die Hände in einer hoffnungslosen Geste aus, »gewonnen hat. Wir waren über fünfundvierzig Jahre verheiratet.« Sie schüttelte den Kopf. »Viele Monate bin ich nicht in der Lage gewesen, irgendetwas zu unternehmen. Ich bin hergekommen, hierher in diesen Raum, und habe mich hingesetzt, ganz für mich allein. Oder mit Miffy, meinem kleinen Hund und großen Freund. Dann kam ich auf die Idee, Abschriften aus Anthony Wickhams Notizbüchern anzufertigen. Das war keine Aufgabe, über die ich mir groß den Kopf zerbrechen musste, wenn Sie verstehen. Und es hat mir die so unendlich zäh verrinnende Zeit vertrieben.«
»Bestimmt hat es auch geholfen, dass Ihre Enkelkinder im Haus sind.«
»Ja, es ist wunderbar, sie aufwachsen zu sehen. Georgie erinnert mich inzwischen sehr an meinen William, das kräftige kleine Ding. Sie haben keine Kinder?«
»Nein«, sagte Jude langsam, »und das bedaure ich sehr.«
»Ich verstehe«, sagte Chantal. »Ich nehme an, dass Ihre Freunde und Ihre Familie sagen: Sie sind noch jung und haben alle Zeit der Welt.«
»Ich wollte Marks Kinder«, platzte es aus Jude heraus, und ihre Stimme klang schroff in dem friedlichen Raum.
Als sie jung verheiratet gewesen waren, hatte es tatsächlich so ausgesehen, als bliebe ihnen alle Zeit der Welt. Beide liebten ihre Arbeit; und sie genossen es, zusammen zu sein. Auch Babys waren geplant, aber erst irgendwann, nicht sofort. Und dann war es auch schon zu spät gewesen.
»Es ist bestimmt schwer, das zu akzeptieren«, sagte Chantal, und Jude wunderte sich, dass sie und diese Frau, die viel älter war als sie und ihr vollkommen fremd, aus freien Stücken ein solch vertrauliches Gespräch geführt hatten.
Jude setzte sich an den Tisch, wo ein Stapel Bücher auf sie wartete. Plötzlich war ihr nicht mehr klar, was sie als Nächstes tun sollte.
»Ich hole uns frischen Kaffee«, murmelte Chantal.
Leise schloss sie die Tür hinter sich. Ein paar Sekunden lang saß Jude da und stützte den Kopf in die Hände. Nachdem sie sich erholt hatte, machte sie sich an die Arbeit. Sie legte eine neue Datei auf ihrem Laptop an und listete sorgfältig alle Bücher auf, beschrieb deren Zustand und die Publikationsgeschichte, kritzelte hin und wieder ein paar Notizen auf ihren Block. Als sie durch John Flamsteeds Atlas Coelestis mit den prächtigen Darstellungen der Sternbilder blätterte, fiel ihr etwas auf. Genau in diesem Moment kehrte Chantal mit dem Kaffee zurück, einer Nähtasche und einem ältlichen King-Charles-Spaniel im Schlepptau.
Jude half Chantal mit dem Tablett. »Sehen Sie nur!« Sie deutete auf eine Darstellung des Sternbildes Zwillinge im Flamsteed und zeigte dann an die Decke.
»Das gleiche Bild! Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen«, rief Chantal. Die himmlischen Zwillinge aus dem Atlas waren über ihren Köpfen wahrheitsgetreu reproduziert worden. »Was ist mit dem Wassermann?«
Jude blätterte bis zum Wasserträger. Auch für diesen Teil der Deckenbemalung hatte Flamsteed das Modell geliefert. Sie blätterte nach vorn ins Buch und prüfte das Datum. Irgendjemand musste Anthony Wickham das Buch gegeben haben: »AW von SB, 1805« war auf dem
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