Die Karte Des Himmels
alten Ledereinbands in den Händen, den Geruch und den wunderschön verzierten Rücken. Für ihr geübtes Auge war die Handschrift nicht schwer zu entziffern, sogar ohne Chantals Transkriptionen. Jeder Eintrag begann mit einer allgemeinen Beschreibung des Himmels, bevor die Beobachtungen jedes einzelnen Objekts genau aufgelistet wurden. Der erste Eintrag war auf den 2. September 1760 datiert.
Klare, mondlose Nacht. Der juwelenbehängte Mantel der Milchstraße ziert den Norden bis nach Südwesten. Königin Cassiopeia reitet am nordöstlichen Himmel, nahe der Konstellation ihres Gemahls Cepheus. Im Osten liegt Tochter Andromeda, gefesselt an ihren Felsen, in der Nähe ihr Retter Perseus und Pegasus, sein geflügeltes Pferd. Eine wahre Freude, dass die Himmel ihre Geschichte erzählen.
5. September
Im Süden liegt das Große Quadrat des Pegasus. Köpfe der Fische nur schwach, aber der einsame Fomalhaut strahlt heute hell.
9. September
Ein neuer Mond zieht auf. Wolkenfetzen. Giraffe schimmert gerade eben sichtbar.
In diesem Stil ging es mit den Einträgen weiter. Wickham schien sich nicht nur für die Beobachtung von Sternbildern zu interessieren, sondern auch für Planeten, besonders für den Mars, den er »unseren nächsten himmlischen Bruder« nannte. Nur selten durchbrach eine persönliche Stimmung die trockene Sachlichkeit seiner Aufzeichnungen: Mond wieder zu hell. Verschwendete Nacht. Oder: Saturnringe erstaunlich strahlend, gepriesen sei die Hand unseres Schöpfers.
Es gab sieben oder acht Notizbücher dieser Art, und jedes umfasste zwei oder drei Jahre. Jude blätterte einige durch, bewunderte ein hingeworfenes kleines Diagramm, das die Position eines neu entdeckten Sterns verzeichnete oder die Muster auf dem Gesicht des Mondes. Manche Einträge waren in einer anderen Handschrift verfasst, und diese neue Handschrift tauchte allmählich häufiger auf. Ungefähr in der Mitte des letzten Journals, das die Jahre 1777 und das frühe 1778 abdeckte, war diese neue Hand vorherrschend geworden. Es war irritierend: Die Aufzeichnungen waren zwar immer noch in demselben knappen Stil gehalten, aber mit Sicherheit von jemand anderem geschrieben worden. Vielleicht diktiert vom ursprünglichen Schreiber. Seltsam. Jude dachte über die Verkäuflichkeit der Tagebücher nach. Es war schwer, den Wert eines solchen Objekts zu schätzen, ohne mehr über den Kontext zu erfahren. Noch am Abend wollte sie eine E-Mail an ihre Freundin Cecelia schicken und sie bitten, einen Blick darauf zu werfen. Wieder schlug Jude den letzten Band auf, irgendwo, und las ein wenig überrascht den Eintrag vom 1. Juni 1777, geschrieben von der neuen Hand:
Aufbau des neuen Teleskops im Turm. Einige Anpassungen notwendig. Schlag Mitternacht. Die Sterne im langen Schweif von Draco dem Drachen auf Anhieb klarer. Sichel des Mondes von ätherischer Schönheit.
Der Turm. Vermutlich derselbe, den Gran erwähnt hatte. Jude ging zum Fenster und ließ den Blick wieder über die Baumreihen in der Ferne schweifen, konnte aber auch diesmal nichts erkennen. Vielleicht lag das Gebäude auf dem hinteren Gelände, wo sie noch nicht gewesen war, obwohl Gran doch sagte, dass es sich in einem Wald befand.
»Chantal«, begann sie, als die Frau, gefolgt von Miffy, mit einem Teetablett hereinkam. »Gibt es auf dem Anwesen eigentlich noch einen Turm? In einem der Journale ist davon die Rede.«
»Ja, es gibt diesen Turm noch. Sehen Sie dort drüben, wo die Bäume anfangen? Normalerweise kann man ihn vom Haus aus nicht erkennen, aber er steht oben auf dem Hügel, dort drüben.«
Jude hatte also doch recht. Sie starrte auf die Stelle, wo das Gehölz sich sanft hochschwang und am Horizont den Himmel berührte, sah aber immer noch keinen Turm.
»Heutzutage wird er kaum noch aufgesucht. Ich selbst bin nur ein einziges Mal oben gewesen. Es heißt, das Gebäude sei gefährlich, und deshalb ist es verschlossen. Vor vielen Jahren sind dort mal ein paar Hippies eingebrochen und haben eine Party gefeiert, bei der jemand einen schrecklichen Unfall erlitt. Danach wurde der Turm eingezäunt. Das Gebäude ist denkmalgeschützt, aber wir können uns die Instandsetzung nicht leisten. Den Wald, in dem es steht, hat William ein paar Jahre vor seinem Tod verkauft. Das schien nur vernünftig, und wir kannten die Person, an die wir verkauft haben. Der Mann hat sich ordentlich um den Forst gekümmert. Unglücklicherweise ist er kurz nach William gestorben, und seine Witwe hat das Land
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