Die Karte Des Himmels
zwei Türen auf, »befinden sich die Notizbücher und die Karten. Robert muss Ihnen davon erzählt haben. Ich fürchte, es ist alles ein wenig durcheinander. Hier ...« Sie zog einen Band ledergebundenes Kanzleipapier aus einem unordentlichen Haufen und schlug ihn aufs Geratewohl auf. Das Blatt war von einer dichten, sauberen und gleichmäßigen Handschrift bedeckt, die Tinte war sepiafarben verblasst.
»Was ist das?«, fragte Jude fasziniert und nahm Chantal das Buch ab.
»Das ist eins von Anthonys Observationsjournalen. Als ich vor ein oder zwei Jahren ein wenig Zeit hatte, habe ich einen Teil des ersten Bandes transkribiert.« Sie lächelte bedauernd. »Einfach war es nicht.« Sie zeigte Jude das Schulheft. »Die rein technischen und die mathematischen Angaben habe ich nicht abgeschrieben. Das hat mich nicht so sehr interessiert. Nur seine Kommentare. Meine Augen sind nicht mehr so gut ... ich fürchte, ich bin nicht sehr weit gekommen.«
»Trotzdem war es wichtig, dass Sie überhaupt angefangen haben«, murmelte Jude und blätterte die Seiten des Originals um. Sie war es gewohnt, alte Handschriften zu entziffern. »Ich bin überzeugt, dass es sehr nützlich sein wird.«
»Und diese Rollen hier, das sind einige Zeichnungen, die er angefertigt hat. Das zum Beispiel ...« Chantal ging in die Hocke und rollte ein Pergament auf. Jude legte das Journal ab, sodass sie die Karte zusammen betrachten konnten. »In der Karte ist ein Teil der Doppelsterne verzeichnet, die er entdeckt hat«, erklärte Chantal.
»Doppelsterne sind paarige Sterne, die einander umkreisen, nicht wahr?«
»Ja. Man glaubte, es sei nützlich, ihre Bewegungen zu verfolgen. Irgendwie hat es damals geholfen, die Entfernung der Sterne von der Erde zu messen. Wegen der neuartigen Teleskope hat man sich sehr für die Sterne interessiert, mehr als für die Planeten.«
»Ihr Sohn hat das Teleskop schon erwähnt.«
»Es ist hier.« Chantal ging hinüber zu einem großen Schrank, der an der Wand zwischen ein paar Regalen stand. Als sie ihn öffnete, fiel ihr Blick auf ein geschwärztes Holzgestell auf dem Fußboden mit einem ungefähr neunzig Zentimeter hohen Metallzylinder. »Besser gesagt, das sind die Teile.« Sie versuchte, das Gestell herauszuheben, aber es war zu schwer. Jude musste helfen. »Halten Sie es ins Licht, ungefähr so, und dann schauen Sie hinein«, erklärte Chantal.
Jude tat es und schnappte nach Luft, als das Licht aufblitzte. Plötzlich starrte ihr ein schwaches Abbild von sich selbst im Dämmerlicht entgegen. »Spiegel!«, rief sie. »Natürlich, was sonst!«
Sie wusste, dass sie es mit dem Teil eines frühen Spiegelteleskops zu tun hatte, die das Licht vom Himmel mit Spiegeln einfingen, es mit verstärkenden Linsen sammelten und in das Innere des Teleskops projizierten, um das Objekt betrachten zu können. Diese Spiegelteleskope eigneten sich besser zum Studium lichtschwacher Objekte als die ursprünglichen Linsenfernrohre, auch Refraktorteleskope genannt. Die Refraktoren waren länger und klobiger, und man musste die Objekte direkt durch die Linsen betrachten, wodurch sich oft das Licht verzerrte.
»Und das Gerät hat Wickham gehört?«, fragte Jude und nahm etwas aus dem Regal, was nach einem Okular aussah.
»Sehr wahrscheinlich, meinen Sie nicht auch? Diese Teile sind in einer Scheune gefunden worden, kurz nachdem ich nach Starbrough Hall gekommen bin. Roberts Vater nahm an, dass ursprünglich mehr davon erhalten geblieben war, aber während des Krieges gaben alle Leute überflüssiges Metall ab, damit Granaten daraus gemacht wurden. Das hier ist irgendwie davor bewahrt worden.« Jude half ihr, das schwere Gerät wieder in den Schrank zurückzuverfrachten.
»Der ganze Raum«, sagte Jude und schaute sich um, »er ist einfach wundervoll, Chantal. Wirklich zauberhaft. Hat Anthony Wickham ihn eingerichtet?«
»Das glauben wir jedenfalls«, erwiderte Chantal, »aber wir wissen es nicht genau. Der größte Teil der Unterlagen aus dieser Zeit ist bei einem Brand des Archivs in viktorianischer Zeit vernichtet worden. Der Vater meines Mannes war ein begeisterter Leser, und viele der späteren Bücher gehörten ihm. Für mich war dieser Raum immer ein Ort der Zuflucht und des Trostes. Daher regt es mich so auf, dass Robert ... oh, das sollte ich nicht sagen.«
Einen Moment lang schwamm in ihren Augen die Erinnerung an einen großen Schmerz. Wirklich ausdrucksvolle Augen, dachte Jude.
»Es tut mir leid«, sagte Jude, »dass Sie
Weitere Kostenlose Bücher