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Die Karte Des Himmels

Die Karte Des Himmels

Titel: Die Karte Des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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Ziel sein. Fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenundvierzig. Inzwischen fror sie, und ihr flatterten die Nerven. Noch mal zehn Stufen. Dann stand sie plötzlich in einem kleinen runden Raum. Zitternd setzte sie sich auf den Boden, versuchte sich zu beruhigen und ihre Umgebung zu betrachten.
    Wie der gesamte Turm bestand der Fußboden aus Ziegeln. Hölzerne Regale und Schränke, manche zersplittert und verfault, bedeckten die Wände. Es gab vier kleine Fenster, rundum in gleichmäßigen Abständen verteilt – eins für jede Himmelsrichtung, dachte sie – und in der Mitte eine Leiter, die zu etwas hinaufführte, was nach einer Luke aussah. Früher mochten die Fenster verglast gewesen sein, aber jetzt waren sie den Elementen preisgegeben. Durch eine der Maueröffnungen fielen Sonnenstrahlen herein, und aus dem Wald war fröhliches Vogelgezwitscher zu hören. Unter dem sonnigen Fenster standen ein Tisch und ein Stuhl, beides moderne Klappmöbel. Jemand musste hier gearbeitet haben, denn auf dem Tisch lagen mehrere Blätter Papier und ein Notizblock, wie Journalisten ihn benutzten. Jude stand auf, schlenderte langsam hinüber. Bei den Blättern handelte es sich um Zeitungsartikel, die aus dem Internet ausgedruckt worden waren; sie las etwas über einen zu erwartenden Meteoritenschauer. Der Notizblock war mit Kritzeleien und Diagrammen bedeckt. Und plötzlich hatte sie nicht mehr nur das Gefühl, ohne Erlaubnis das Grundstück fremder Menschen betreten zu haben, sondern in etwas viel Persönlicheres einzudringen: in deren Arbeit. Vor zweihundert Jahren hatte Anthony Wickham hier gesessen, und nun stieg jemand in den Turm und zerbrach sich den Kopf über den Sternenhimmel. Die Anwesenheit dieser Menschen war förmlich zu spüren. Jude fühlte sich unbehaglich, so als müsste sie sich entschuldigen und verschwinden.
    Auf dem Weg zur Treppe kam sie an einem Regal vorbei, auf dem einige Gegenstände lagen, ein paar Taschenbücher, die sich in der feuchten Luft aufgerollt hatten, und ein Becher mit verstaubten Bleistiften. Aber auch Dinge, die merkwürdiger waren. Eine große Scheibe fein gespaltener Flintstein. Der Kopf einer Axt oder eines anderen Werkzeugs, wie sie vermutete, als sie es in die Hand nahm und untersuchte. Die Brille eines Mannes mit zerkratztem und mattem Schildpattgestell starrte sie an. Das altmodische Fernglas, das an einem Nagel in der Nähe hing, erwies sich als unwiderstehlich. Sie nahm es, ging von einem Fenster zum anderen und schaute hinaus. Nur aus einem konnte sie außer Bäumen überhaupt etwas sehen. Erstaunlicherweise gab dieses Fenster den Blick auf Starbrough Hall frei, das in der Ferne aussah wie ein Puppenhaus. Sie schrubbte die verschmierten Gläser mit Spucke und dem Saum ihres Hemdes sauber. Als sie wieder hindurchschaute, erkannte sie die Bibliothek und, als winzige Figur, Robert, der aus dem Auto stieg und unter dem Torbogen hindurch zur Rückseite des Hauses ging. Es überraschte sie, dass sie vom Turm zwar das Haus sehen konnte, aber nicht den Turm vom Haus aus. Sie fragte sich, ob das schon immer so gewesen war oder sich erst in jüngster Zeit ergeben hatte, weil die Bäume gewachsen waren.
    Sie hängte das Fernglas wieder an den Nagel und warf einen neugierigen Blick hinauf zur Dachluke. Sie kannte ihre Grenzen: Es wäre dumm, allein da hinaufzusteigen und die Luke zu öffnen. Was, wenn sie abstürzte? Aber sie wollte unbedingt wissen, was auf der anderen Seite war. Der offene Himmel vielleicht oder noch ein Raum wie dieser? Mit Bedauern ging sie rückwärts vor der Treppe in die Hocke und kletterte wie ein Matrose an einer Schiffsleiter abwärts. Sie wollte wiederkommen, ein andermal, mit Euan. Ein angenehmer Gedanke.
    Als sie zitternd und verstaubt unten angekommen war, zog sie die Tür zu und hängte das Schloss genau so wieder an, wie sie es vorgefunden hatte, zwar nicht verschlossen, aber dem Anschein nach doch. Ihr Verantwortungsbewusstsein riet ihr abzuschließen, aber dann würde sich derjenige, der das Schloss so hinterlassen hatte, darüber ärgern. Plötzlich sah Jude ein Kind vor sich, das die Tür aufschob und die Stufen hinaufstieg. Das gab den Ausschlag. Aber als sie das Ding zusammendrückte, weigerte es sich, verschlossen zu bleiben. Also ließ sie alles, wie es war. Es gab nichts mehr zu tun.
    Jude war sich bewusst, dass es immer später wurde, und wandte sich in Richtung des Weges um. Doch ihr Blick blieb an etwas hängen, an einem Hügel frischer Erde am Rande

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