Die Karte Des Himmels
der Lichtung. Zu groß für einen Maulwurfshügel. Sie ging hinüber und stand einen Moment verwirrt davor, bis ihr klar wurde, dass Euan hier den Muntjak beerdigt haben musste. Die Erde war dunkelbraun, reich an Lehm. Aus dem Boden stach etwas Gelbliches hervor. Sie bückte sich und zog es heraus. Es war ein gebrochener Knochen, so dick wie ein Gartenschlauch, ein Hinweis auf etwas, das viel länger tot war als der Hirsch. Sie ließ den Knochen wieder fallen und dachte sich nichts dabei.
Sie stand auf und schaute sich um. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, aber sie konnte niemanden entdecken.
Dann aber, gerade als sie die Bäume erreicht hatte, hörte sie das Geräusch eines Motors auf der Straße. Es verstummte rasch, dann knallten Türen. Der Schock der Schießerei am Freitag kehrte zurück. Hastig verließ Jude den Pfad und versteckte sich im Gestrüpp aus dichten Haselsträuchern und Brombeeren. Sie hielt sich unbefugt auf dem Gelände auf, und vielleicht kam gerade die Person mit dem Gewehr. Zum Glück war sie vorsichtig genug gewesen, ihren eigenen Wagen abseits der Straße zu parken, sodass man sie nicht suchen würde.
Kurz darauf hörte sie die Stimme einer Frau, dann das tiefere Timbre eines Mannes. Also mehr als nur eine Person. Aus ihrem belaubten Versteck heraus sah sie die beiden näher kommen und riss überrascht die Augen auf. Voran ging Marcia Vane, heute in enger weißer Jeans und einem tief ausgeschnittenen Top. Ein großer, breitschultriger Mann um die vierzig, eher für den Golfplatz gekleidet als für einen Waldspaziergang, begleitete sie. Was hatten die beiden am Sonntagmorgen um diese Uhrzeit hier zu suchen?
Sie gingen an Judes Versteck vorbei. Jude beobachtete, wie sie vor der Bresche am Stacheldrahtzaun stehen blieben. Der Mann schrie wütend auf und ging in die Hocke, um den zerstörten Draht zu untersuchen. Als er wieder aufstand und mit Marcia sprach, konnte Jude nur ein paar Wortfetzen verstehen.
»... definitiv zerschnitten worden ... wer auch immer ... hier konnten sie es nicht reinfahren.« Der Mann breitete die Arme aus und deutete auf die Lichtung. »... vermutlich ein paar Bäume.« Jetzt starrten beide hoch zum Turm. Der Mann ging hinüber und versetzte der Tür mit seinem polierten Schuh versuchsweise einen Tritt.
»Das hast du ja toll gemacht, John ...«, spottete Marcia. Der Mann war also John Farrell, Marcias Mandant. Oder, dachte Jude, als sie sah, wie vertraulich die Frau ihn am Arm berührte, vielleicht auch mehr.
Als John und Marcia ihr den Rücken zuwandten, nutzte sie die Gelegenheit, durch die Bäume in Richtung Straße zu verschwinden. Die beiden führten offensichtlich irgendetwas im Schilde, und Jude spürte, dass es besser war, wenn sie nicht wussten, dass sie eine Zeugin war.
10. Kapitel
Abends um neun kam Jude zu Hause in Greenwich an. Sie war erschöpft, musste sich aber trotzdem darauf vorbereiten, am nächsten Tag früh aufzustehen. Auf die Taufe in einer Kirche in der Nähe von St. Alban’s war eine feuchtfröhliche Party gefolgt, die den ganzen Nachmittag über gedauert hatte. Als sie sich um sechs Uhr verabschiedet hatte, staute sich der Sonntagabendverkehr auf der Schnellstraße, und auch nachdem sie ihre Ausfahrt genommen hatte, war sie nur langsam durch das östliche London gekrochen.
Sie packte aus, bereitete sich ihren tröstlichen Lieblingshappen zu – Käse auf Toast – und checkte ihre E-Mails, während sie aß. Cecelia hatte geantwortet, und Jude öffnete die Mail sofort.
Hey, Jude (ich liebe es, das zu schreiben!),
wie freue ich mich, von Dir zu hören. Ich würde mich sehr gern mit Dir treffen. Jude, es ist ein erstaunlicher Zufall, aber ich arbeite im Royal Observatory nur ein kleines Stück die Straße hinunter, ganz in der Nähe von Dir! Meinst Du, wir könnten uns vielleicht abends nach der Arbeit treffen und dann irgendwo in Greenwich etwas essen oder trinken? Ich habe nichts Großartiges vor ... Danny ist in Boston ... such Dir also einen Tag aus!
Alles Liebe,
Cecelia
In ihrer Antwort erläuterte Jude, worum es ging, und schlug gleich den nächsten Tag vor, den Montag, obwohl das sicher optimistisch war. Sie war gerade dabei, sich auszuloggen, als ihr Blackberry klingelte. Caspar, endlich.
»Wir haben den ganzen Tag über in Meetings gesessen«, sagte er, »und eben waren wir mit den anderen Jungs in diesem tollen Restaurant zum Dinner. Wie war’s in Norfolk?«
»Sehr schön, danke«, entgegnete
Weitere Kostenlose Bücher