Die Karte Des Himmels
schloss Judes Finger über der Kette. »Ich möchte, dass du herausfindest, was aus Tamsin geworden ist.«
»Gran«, sagte Jude sanft, »aus dem Mädchen ist eine sehr, sehr alte Frau geworden. Niemand kann garantieren, dass ...«
Jessie unterbrach sie. »Ja, natürlich, wahrscheinlich ist sie tot. Glaub bloß nicht, dass ich daran nicht gedacht hätte. Aber es gibt doch Hoffnung, oder? Außerdem könnte sie doch Kinder gehabt haben.«
»Ja, es gibt eine Chance«, stimmte Jude zu, dachte aber insgeheim, dass diese nur sehr klein war. »Aber ich muss mehr über sie wissen. Wie war ihr voller Name?«
Gran überlegte. »Lovall«, sagte sie dann. »Sie muss genauso alt gewesen sein wie ich, obwohl sie nicht genau wusste, wann sie Geburtstag hatte. Aber in Starbrough ging sie in meine Klasse, das habe ich dir schon erzählt. Sie war so eine sanfte Person, sanft und leise, aber in Naturgeschichte kannte sie sämtliche Namen der Tiere und der Blumen. Manchmal waren es nicht die richtigen Namen, sondern diejenigen, die die Roma ihnen gegeben hatten.«
Ein Name, eine Schule, ein ungefähres Geburtsdatum – Gran war 1923 geboren. Das war alles, was Judes Großmutter ihr über das Mädchen sagen konnte, das sie vor nahezu achtzig Jahren im Wald kennengelernt hatte. Ein Roma-Mädchen ohne feste Anschrift, das vielleicht bei der Heirat seinen Namen geändert hatte und inzwischen vermutlich tot war. Nun gut.
Jude wickelte die Halskette in das Stoffetui und verstaute das Päckchen sicher in ihrer Handtasche. »Ich kann dir nichts versprechen, Gran, aber ich will es versuchen.« Das war alles, was sie anbieten konnte, und die Erleichterung im Blick ihrer Großmutter war ihr Belohnung genug.
16. Kapitel
Den Juli haben wir auch schon halb hinter uns, dachte Jude am Montagmorgen, als sie einen kurzen Brief schrieb, den sie dem jämmerlich verstümmelten letzten Band der Observationstagebücher beilegen wollte. Sie packte alles ein und fuhr nach Holt, wo sie die Sendung zur Post brachte und an Cecelia schickte, an deren Adresse in Barbican. Weil sie Claire erst am nächsten Tag im Laden besuchen wollte, schlenderte sie anschließend durch ein paar Antiquitätengeschäfte und Kunstgalerien. Sie fand ein hübsches Seestück mit Booten in Wasserfarben, das sie den Wickhams am Tag ihrer Abreise als Dankeschön überreichen wollte. Im Buchladen entdeckte sie eine Ausgabe von Euans neuem Buch. Als sie dann auf den verschlungenen Wegen zum Parkplatz zurückspazierte, stolperte sie über eine kleine öffentliche Bibliothek. »Entdecken Sie die Geschichte des Ortes, an dem Sie leben«, verkündete ein Plakat an der Tür. Sie beschloss, genau das zu tun, und trat ein.
»Bitte, wo ist Ihre Abteilung über Lokalgeschichte?«, fragte sie eine Frau um die fünfzig, die Fotos an eine Ausstellungswand pinnte.
»Hier entlang«, erwiderte die Frau und führte sie auf die andere Seite der Regale. »Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«
»Haben Sie irgendetwas über Starbrough Village oder Starbrough Hall?«, fragte Jude zurück.
»Kein spezielles Buch«, erwiderte die Bibliothekarin, »aber es könnte sein, dass Sie in diesen Werken etwas über Norfolk und Holt finden.«
»Danke. Ich schau mich mal um«, erwiderte Jude mit einem Lächeln, und die Bibliothekarin wandte sich wieder ihrer Ausstellungswand zu.
Jude griff nach dem entsprechenden Band von Pevsners Architekturgeschichte und schlug das Register auf. Starbrough Hall wurde nur beiläufig erwähnt, und weil es kein Foto gab, stellte sie es zurück. Ein Buch über Regionalgeschichte, 1998 erschienen, erwies sich als ergiebiger. Es gab anderthalb Seiten, die über die Information hinausgingen, die sie in Great Houses in ihrem Büro gelesen hatte. Insbesondere erfuhr sie, dass das Haus auf das Jahr 1720 zurückging, als Edward Wickham – wahrscheinlich Anthonys Großvater – es auf dem Gelände von Starbrough Manor erbaut hatte. Starbrough Manor war zehn Jahre zuvor durch ein Feuer zerstört worden, nur zwei Jahre nach der Feuerkatastrophe von 1708, die den größten Teil von Holt verwüstet hatte. Edward Wickham, der ursprünglich aus der Gegend stammte, hatte sich offenbar dort zur Ruhe gesetzt, nachdem er als Kaufmann der East India Company ein Vermögen gemacht hatte. Im Jahr 1769 hat Edwards Enkel Anthony den Turm erbaut , las Jude mit sprunghaft gestiegenem Interesse, aber das meiste, was folgte, war ihr schon bekannt.
Seine Lage auf einem Hügel im Wald, der zum Haus gehörte,
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