Die Karte Des Himmels
war umstritten, nicht zuletzt, weil es schon immer geheißen hatte, dass dieser Platz in vorrömischer Zeit eine Begräbnisstätte gewesen sei. Anders als viele Follys des achtzehnten Jahrhunderts diente der Turm wohl nicht nur reinen Dekorationszwecken. Hinweise aus Anthony Wickhams eigenen Schriften deuten darauf hin, dass er das Gebäude zur Beobachtung des Nachthimmels genutzt hat.
Aber dann kam etwas, das Jude neu war.
In den Zwanzigerjahren wurde ein Versuch unternommen, eine Ausgrabung in dem Gelände rund um den Turm durchzuführen. Dabei wurden mehrere interessante Funde aus verschiedenen Epochen zutage gefördert, einschließlich keltischer Schmuckstücke, die heute im Schlossmuseum in Norwich zu sehen sind. Starbrough Hall und die Wälder befinden sich zurzeit immer noch im Besitz der Familie Wickham; die landwirtschaftlichen Nutzflächen wurden allerdings in den frühen Sechzigerjahren verkauft.
Es hatte also doch eine archäologische Grabung gegeben.
Jude ging hinüber zu der Bibliothekarin und zeigte ihr den Abschnitt im Buch. »Haben Sie vielleicht noch mehr Material über diese Ausgrabung?«
Die Frau suchte ein paar Minuten in ihrem Computer und sagte dann: »Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Aber warum gehen Sie nicht zum Museum in Norwich? Ich habe dort eine Freundin, an die Sie sich vielleicht zuerst wenden sollten. Sie heißt Megan Macromber.«
»Danke, ja, das sollte ich vielleicht tun«, sagte Jude und kritzelte den Namen in ihr Notizbuch. Das war zwar nicht ihre dringlichste Angelegenheit, aber irgendwann könnte es sich als nützlich erweisen, zu wissen, was damals ausgegraben worden war.
Sie kehrte nach Starbrough Hall zurück und verbrachte ein paar ruhige Stunden in der Bibliothek mit Katalogisieren, bevor sie sich ernsthaft an die mühselige Arbeit machte, Esthers Denkschrift zu transkribieren. Die Abschnitte, die sie schon gelesen hatte, waren kein Problem, aber als sie zum nächsten Teil kam, brauchte sie länger, auch, weil sie immer wieder innehielt, um über die Geschichte nachzudenken, die sich unter ihren Augen entwickelte. Esthers Stimme, die zuerst schüchtern und sehr förmlich geklungen hatte, gewann an Kraft und Vertrauen, je weiter sie fortfuhr.
Zu meinem achten Geburtstag sandte mein Vater mir ein handgemaltes Buch mit Bildern über die Vögel und Blumen und Tiere unseres Königreiches. Viele Stunden verbrachte ich damit, die Seiten umzublättern, die Namen zu flüstern und die zarten Farben zu bestaunen. Ich zeigte es Sam, der mich die landläufigen Namen gelehrt hat, Milchbart und Lords und Ladys, und wie man einen männlichen von einem weiblichen Eichelhäher unterscheidet, aber über die lateinischen Wörter in meinem Buch schüttelte er den Kopf und erklärte sie für kalt und tot. »Was sagt das Wort veronica über das Blau des Heidekinds?«, fragte er mich mit der Überlegenheit seiner zehn Jahre. »Und erinacea ist längst nicht so gut wie Igelpolster. Denk doch nur, wie lustig es ist, wenn sie wie auf Zehenspitzen laufen.« Doch obwohl ich sehr wohl verstand, was er meinte, liebte ich doch den merkwürdigen Klang der neuen Worte und freute mich darüber, dass ich nun wusste, warum vulpine fuchsartig bedeutete, wie Miss Greengage uns erklärt hatte, obwohl das Wort klang, als ob es wolfsähnlich bedeuten solle, was aber lupine hieß. Wenn man vulpus unter dem Bild eines Fuchses las und lupus unter einem wild dreinblickenden Wolf, wurde alles deutlich.
Dann folgte eine Reihe langer, heißer Tage, unterbrochen von kurzen, kalten Nächten ohne Wolken. Während wir bis lange in den Abend hinein draußen spielten, bestaunten Matt und ich den Abendhimmel, der sich vom tiefsten Ultramarin, welches man sich nur vorstellen konnte, in ein exquisites golddurchsetztes Indigo verwandelte, aus dem die Sterne zu blinken begannen. Es geschah immer in diesen atemberaubenden Minuten, in denen die umgestülpte Schale des aufgezogenen Nachthimmels sich auf verführerische Weise selbst entblößen wollte, dass Susan mich zu Bett schickte. So kam es, dass wir an einem dieser Abende die letzten Einzelheiten unseres Abenteuers planten.
Der Tag, den wir ausgewählt hatten, lag Mitte August. Als Mrs. Godstone mir den Rücken zukehrte, stahl ich Brot und kalten Schinken aus der Vorratskammer, wickelte beides in Ölpapier und versteckte es in einem irdenen Krug in der kühlsten Mulde der Milchkammer, sodass wir wenigstens nicht unter Hunger zu leiden haben würden.
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