Die Karten des Boesen
klar.« Sie atmete tief durch. »Ich habe einen direkten Zugang zu meinen Gefühlen. Meine Vorahnungen decken sich mit den Prognosen des Tarots und den Berechnungen meines Horoskops. Es bleibt mir keine andere Wahl, als mich mit dem mir zugedachten Schicksal abzufinden.«
Für einige Sekunden herrschte andächtige Stille. Außer einer kleinen Uhr, die gleichmäßig auf dem Kaminsims tickte, war nichts zu hören. Justus setzte sich wieder an den Tisch, stützte das Kinn auf die Hand und blickte Mrs Summer in die Augen. »Erlauben Sie mir bitte eine indiskrete Frage, Madam. Gibt es einen realen Anlass, an Ihr nahes Ende zu denken, oder haben Ihnen nur die Tarotkarten und Ihr Horoskop diese Information zugetragen?«
»Was heißt hier nur?« Die Astrologin sah Justus entgeistert an. »Von Kriminalistik mögt ihr ja eine Menge verstehen, doch ›Bewusstseinsentwicklung‹ scheint euch ein Fremdwort zu sein. Deshalb sage ich es noch einmal: Das Tarot ist keine Jahrmarktsgaukelei, sondern die Entfaltung der persönlichen Wahrheit! Auch die Astrologie ist eine ernst zu nehmende Wissenschaft. Im Übrigen bin ich kerngesund, um deine Frage zu beantworten. Dr. Bull, mein Hausarzt, hat mir sogar, vom biologischen Standpunkt aus betrachtet, ein langes Leben diagnostiziert. Maßgeblich ist jedoch, was ich sehe und empfinde. Das Tarot weiß mehr.«
Mrs Summer deutete auf die fünf Karten, die sternförmig verteilt auf dem Tisch lagen. »Das Symbol des Gehängten war die Antwort auf meine erste Frage ›Wo komme ich her?‹« Wieder warf sie einen Blick zum Katzenkorb und konnte nur mühsam ihre Tränen zurückhalten.
Peter lief ein kalter Schauer über den Rücken. Das Bild des Gehängten ähnelte in erschreckender Weise ihrem Fund im Ginsterbusch. Auch Bob verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
»Die Frage zur zweiten Karte lautete …« Milva Summer schluckte und deutete auf das Symbol des Todes. »Wo gehe ich hin?«
Die Kerzenlichter flackerten unruhig und warfen unheimliche Schatten auf Mrs Summers Gesicht. Justus behielt einen kühlen Kopf. »Und was verraten Ihnen die drei übrigen Karten?«
Die Astrologin wehrte diese Frage mit einer schnellen Handbewegung ab. »Unwesentliches im Vergleich zu den ersten beiden. Was mir schwerfällt, was Sinn macht und was mir viel bedeutet, ist nicht mehr ausschlaggebend.«
»Es würde mich aber dennoch interessieren«, erwiderte der Erste Detektiv hartnäckig und blickte neugierig auf die verdeckten Karten.
»Nun gut.« Mrs Summer wendete resigniert das dritte Blatt und schien auch beim Anblick dieses Symbols innerlich bestätigt zu werden. Es zeigte eine Person, die aufrecht im Bett saß und die Hände vor das Gesicht hielt. Darüber hingen neun Schwerter an der Wand. »Ich habe es geahnt. ›Neun Schwerter‹. Die Antwort auf die Frage: ›Was fällt mir schwer?‹«
»Und was bedeutet dieses Symbol?«, wollte Bob wissen, obwohl die finstere Darstellung des Bildes schon fast für sich sprach.
»Diese Karte wird als Station der Verzweiflung gedeutet. ›Sie begreifen die Konsequenzen und die Bedeutungen Ihrer Gedanken‹, heißt es in dem Leitbuch.« Ohne zu zögern, drehte Mrs Summer die vierte Karte um. Auf ihr waren ebenfalls Schwerter abgebildet. Sie steckten in einem Boot, das ein Fährmann aufs nahende Ufer zusteuerte. »›Sechs Schwerter‹. Die Frage nach dem Sinn. Das Bild steht für einen Umzug oder eine Ortsveränderung. Es wird mir nicht erspart bleiben: Schon bald werde ich von dieser Welt in eine andere übergehen müssen.«
Dem Ersten Detektiv schossen tausend Dinge durch den Kopf. Er überlegte fieberhaft, wie er den Angstvisionen der Astrologin entgegenwirken könnte, doch ihm fiel nichts ein. Zumal Mrs Summer von ihrem unausweichlichen Todesschicksal überzeugt zu sein schien und sich auch nicht durch gutes Zureden beeinflussen ließ.
Die fünfte und letzte Karte, die Mrs Summer nun aufdeckte, zeigte ein Feld unter freiem Himmel, auf dem nackte Menschen aus hölzernen Kisten stiegen und einen Engel in den Wolken anbeteten. »›Das Gericht‹«, flüsterte Mrs Summer kaum hörbar. »Umwandlung und Wiedergeburt. Das bedeutende, große Ziel.« Verängstigt sah sie die drei Detektive an. »Glaubt ihr mir nun?«
Peter behagte die dunkle Beleuchtung in dem Kaminzimmer nur wenig. Die Sonne war längst untergegangen. Die düsteren Prophezeiungen der Tarotkarten und die Tatsache, dass mit ihnen im Raum der tote Kater unter einem Leichentuch in seinem
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