Die Kastratin
bereits ein Teil von ihr geworden war. Doch als sich der erste Ton von ihren Lippen erhob, trug er sie mit sich fort in eine andere Welt. Erst als der Beifall ihrer Zuhörer erklang, nahm Giulia die Gegenwart wieder wahr. Da sie ihre Lieder über den Nachmittag und Abend verteilt vortragen sollte, legte sie nun eine Pause ein und verneigte sich mit einer grazilen Geste vor den applaudierenden Menschen.
Ihr Blick suchte Vincenzo, um von ihm ein unbestechliches Urteil zu erhalten, entdeckte ihn jedoch nicht auf Anhieb. Gegen ihren Willen ärgerte sie sich darüber, denn sie hatte sich daran gewöhnt, Vincenzo bei ihren Auftritten immer an ihrer Seite zu haben. War er auf einmal nicht mehr daran interessiert, wie sie sang?, fragte sie sich. Dann dachte sie daran, dass er einen alten Bekannten getroffen haben mochte, der ihn in Beschlag genommen hatte. Etwas anderes wollte sie ihm nicht unterstellen, auch wenn es eine Reihe gut aussehender Frauen auf diesem Fest gab.
Giulia zerknüllte die Handschuhe, die sie ausgezogen hatte, um ihre Hände zu kühlen, und wanderte ziellos durch die Menge, bis sie von Giovanna Gonfale angesprochen wurde. Sie wandte sich ihr zu und sah einen gut aussehenden Mann an ihrer Seite, der die Tracht eines Offiziers der päpstlichen Garde trug. Er kam Giulia bekannt vor, doch es dauerte einen Moment, bis sie Paolo Gonzaga erkannte, der anscheinend aus sizilianischen in päpstliche Dienste übergetreten war. Er schien aber nichts gelernt zu haben, denn wie es aussah, suchte er auch heute nach einem willigen Opfer.
Giovanna Gonfale fasste Giulia mit einer Hand am Ärmel und zeigte mit der anderen auf ihren Begleiter. »Darf ich Euch den ehrenwerten Paolo Gonzaga vorstellen. Er ist ein berühmter Hauptmann in der Armee Seiner Heiligkeit.«
Der bewundernde Ton ihrer Stimme zeigte Giulia, dass es für Gonzaga ein Leichtes sein würde, Giovanna zu einem heimlichen Stelldichein und zu mehr zu überreden. Da sie sich unter dem Dach der Gonfales befand, fühlte Giulia sich verpflichtet, das Mädchen vor dem gewissenlosen Schürzenjäger zu warnen. »Ich habe bereits von dem Herrn gehört. Er soll in seiner Heimat als ein wenig, nun sagen wir, zügellos gelten.«
»Auf alle Fälle zügelloser als ein Kastrat«, erwiderte Paolo Gonzaga mit einem Lachen, das an Giulias Nerven kratzte. Dann wandte er sich mit schmelzender Miene an Giovanna und bat sie, Giulias Worten keine Bedeutung beizumessen. »Wisst Ihr, man gilt leicht als lockerer Vogel, wenn man gerne lacht und der einen oder anderen schönen Frau eine Kusshand zuwirft.« Er neigte seinen Mund zu ihrem Ohr. »Außerdem heißt es nicht umsonst, dass jene Männer, die sich in ihrer Jugend die Hörner abgestoßen haben, die besten Ehemänner werden, während jene traurigen Mickerlinge, die als Jünglinge zu kurz kamen, später die fatale Neigung besitzen, dem weiblichen Dienstpersonal nachzustellen und Kurtisanen aufsuchen.«
Giulia schürzte die Lippen. »Messer Gonzaga, findet Ihr das eine angemessene Unterhaltung mit einer jungen, unschuldigen Dame?«
Paolo Gonzaga fuhr herum und funkelte sie zornig an. Sie las die Drohung in seinen Augen, sich hier herauszuhalten, und fragte sich verwundert, weshalb er für alle so offen sichtbar um Giovanna warb, obwohl diese die am wenigsten hübsche der drei Gonfale-Schwestern war. Dann erinnerte sie sich, gehört zu haben, dass Giovanna von einem reichen Onkel als Erbin eingesetzt worden war. Sollte es Paolo Gonzaga etwa um ihre Mitgift gehen? In dem Fall tat ihr das Mädchen Leid. Gonzaga würde sich um keinen Deut ändern, sondern seine Befriedigung suchen, wo sie ihm geboten wurde. Giovanna würde von Glück sagen können, wenn sie rasch genug geschwängert wurde, um über ihren Kindern die Herzlosigkeit ihres Mannes vergessen zu können.
Der zufriedene Blick, mit dem Lucretia Gonfale ihre Tochter und Gonzaga betrachtete, ließ Giulia erkennen, dass Paolos Werbung auf offene Arme und ihre Warnungen auf taube Ohren stoßen würden. Giulia war direkt froh über die Umsicht ihres Vaters, die ihnen einen guten Teil ihres Geldes gerettet hatte, denn jetzt wollte sie die Wohnung der Gonfales so schnell wie möglich verlassen. Zum einen mochte sie nicht mit ansehen, wie sich das Mädchen ins Unglück stürzte, und zum anderen hatte sie Angst vor Gonzaga. So war sie froh, dass sie Vincenzo in einer Nische erspähte. Er stand bei einem etwas älteren Mann, der ununterbrochen auf ihn einredete und ihn dabei am
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