Die Kastratin
und auf der Schwelle erschien ein Mann im prunkvollen Bischofsornat. Er blieb stehen, bis die Gläubigen ihre Stimmen gedämpft hatten und sein Erscheinen würdigten. Dann schritt er zu einem aufwändig geschnitzten Betstuhl, der seitlich des Altars stand, winkte den Sängern und den Gläubigen huldvoll zu, als wolle er unterstreichen, dass er der Mann war, auf dessen Urteil es hier ankam, und setzte sich. Giulias Aufmerksamkeit konzentrierte sich mit einem Mal ganz auf den Kirchenmann, so dass sie die Mönche und Diener, die ihm folgten, nur ganz am Rande wahrnahm. Ihr Geist raste, und ihr Herz schlug wie wild. Der Mann war niemand anders als Francesco della Rocca, der Abt von San Ippolito di Saletto. Er hatte in den Jahren Karriere gemacht und war Bischof und Almosenier von Santa Ursula geworden.
Della Roccas Blick schweifte über die angetretenen Sänger und blieb dabei interessiert auf Giulia haften. Sie erwartete jeden Augenblick, seinen überraschten Ausruf zu hören und den Befehl, sie festzunehmen. Ihrer Meinung konnte es ihm damals in Saletto unmöglich verborgen geblieben sein, dass die Solostimme der Messe von einem Mädchen gesungen worden war.
Zu ihrer Erleichterung wanderte della Roccas Blick jedoch weiter und blieb auffordernd auf dem Priester haften, der seinen Platz vor dem Altar eingenommen hatte. Auf dessen Zeichen trat der Kirchendiener auf die Sänger zu und drückte ihnen die Liste der Lieder in die Hand, die sie zu singen hatten. Einen Augenblick hoffte Giulia, dass alle zugleich singen sollten. Ein rascher Blick auf das Blatt ihres Nebenmanns zeigte ihr jedoch, dass jeder von ihnen einen Teil der Messe allein vortragen musste. Sie hätte liebend gerne darauf verzichtet, della Rocca ihre Stimme hören zu lassen. Doch für Giulia gab es kein Zurück mehr, denn ihre Anwesenheit begann Aufsehen zu erregen. Die Leute in den vorderen Reihen zeigten schon auf sie und tuschelten miteinander. Giulia hörte, wie man sie den mutigen Kastraten nannte, der den schlimmen Räuber Alessandro Tomasi allein mit der Macht seine Stimme besänftigt hätte. Der Kirchendiener schien auch davon gehört zu haben, denn er warf ihr einen anerkennenden Blick zu und flüsterte della Roccas Diener ein paar Worte ins Ohr. Dieser musterte Giulia kurz und eilte dann zu seinem Herrn.
Als die anderen Sänger das Aufsehen bemerkten, das der Kastrat verursachte, wurden ihre Blicke geradezu mörderisch. Zu Giulias Glück begann jedoch die Messe, und jeder richtete sein Augenmerk auf den Text, der darüber entschied, ob er als Lohn für seine Mühe eine Anstellung in einem päpstlichen Chor erhielt oder mit einer warmen Mahlzeit abgespeist würde. In dieser Situation hätte Giulia das Essen vorgezogen. Ängstlich beobachtete sie den Bischof, der dem Gottesdienst mit einer sanft entrückten Miene folgte, welche einzustudieren ihn sicher viel Mühe gekostet hatte.
Erst der dröhnende Bass des Deutschen oder Flamen riss Giulia aus ihren bohrenden Gedanken. Der Mann sang wirklich gut, wenn auch die Ausbildung seiner Stimme zu wünschen übrig ließ. Giulia sah della Rocca zufrieden nicken. Der Deutschflame schien Gnade vor seinen Ohren gefunden zu haben. Die nächsten beiden Sänger besaßen ebenfalls tiefe Stimmen, fielen gegen ihren Vorgänger jedoch hörbar ab. Della Roccas Miene änderte sich um keinen Deut. Nur das Nicken unterblieb.
Viel zu schnell war Giulia an der Reihe. Ein letztes Mal erwog sie, bewusst schlecht zu singen, um der Aufmerksamkeit des ehemaligen Abtes zu entgehen. Aber dafür war sie schon zu bekannt. Sie biss sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckte, und schüttelte kurz, aber heftig den Kopf. Nein, sie würde ihr Können nicht verbergen. Bis jetzt hatte della Rocca sie noch nicht mit dem kleinen Mädchen in Verbindung gebracht, das vor einigen Jahren in seiner Abtei gesungen hatte. So blieb ihr die Hoffnung, dass er entweder die Wahrheit nicht kannte oder sich nicht an ihre Stimme erinnerte. Sie verbeugte sich in seine Richtung, so wie sie vor ihren Auftritten immer den Gastgeber grüßte, und sang mit klarer, das Kirchenschiff füllender Stimme den ersten Ton.
Während des Chorals nahm Giulia die Menschen um sich herum nicht wahr, auch nicht della Rocca. Erst als sie mit einem letzten Halleluja endete, wurde sie sich der Anwesenheit der anderen wieder bewusst. In der Kirche war es so still, als hätte ein Geist die Zeit angehalten. Erst langsam begannen die Leute sich wieder zu regen. Zuerst hörte
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