Die Kastratin
Beschreibung in diesem Gewirr von Gassen nichts nützte. Sie musste ein paar Münzen für ein Rudel Gassenjungen opfern, die sie lärmend zu ihrem Ziel brachten und ihr unterwegs einige Dutzend Vergnügungsstätten aufzählten, in denen sich ein nobler Herr nachts die Zeit vertreiben konnte. Als Giulia keinem von ihnen versprach, ihn später am Abend als Führer zu engagieren, zogen sie enttäuscht ab.
Santa Ursula war keines der großen oder bedeutenden Gotteshäuser Roms. Noch im romanischen Stil erbaut und eng zwischen die umstehenden Häuser gezwängt, wirkte die Kirche auf Giulia düster und abweisend. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie das große, kupferbeschlagene Portal öffnete und eintrat. Weit vorne in der Apsis brannte eine Hand voll Kerzen, die kaum ihre Umgebung erhellten, und man konnte selbst von den mit Namen versehenen Plätzen der örtlichen Handwerker aus den Altar nur als undeutlichen Schemen wahrnehmen.
Giulia war das Ganze unheimlich, und für einen Augenblick kam sie in Versuchung, umzukehren. Dann straffte sie jedoch die Schultern. Wenn sie bei jeder noch so kleinen Schwierigkeit wie ein ängstliches Mädchen zurückwich, würde sie sich niemals von ihrem Vater lösen können.
Als sie auf den Altar zutrat, entdeckte sie mehrere Männer, die in den seitlichen Bankreihen Platz genommen hatten, welche eigentlich adligen Besuchern oder Kirchenleuten vorbehalten waren. Satzfetzen in verschiedenen Sprachen verrieten, dass die Leute aus aller Herren Länder stammten. Ihren Abzeichen und Amuletten nach zu urteilen schienen die meisten von ihnen Pilger zu sein, die wohl ebenso wie sie hofften, eine Stelle in einem der vielen Chöre der Papststadt zu ergattern.
Während Giulia Platz nahm, versuchte sie ihre Konkurrenten abzuschätzen. Es waren mehrere Deutsche oder Flamen dabei. Giulia konnte die Dialekte der beiden Völker nicht auseinanderhalten. Einer von ihnen besaß einen klangvollen Bass, während sein Kamerad neben ihm wohl mehr auf die Inbrunst als die Reinheit seiner Stimme zu vertrauen schien. Einen Spanier erkannte sie an seiner Haltung und einen Franzosen an dem leisen Gebet in seiner Muttersprache. Bei dem Rest handelte es sich um Italiener. Bald sah Giulia zwei Dutzend taxierender Blicke auf sich gerichtet.
Einer der Männer beugte sich zu ihr herüber. »Wo kommst du her?«
»Aus Cremona«, erwiderte Giulia knapp im Florentiner Dialekt. Der Klang ihrer Stimme ließ einige Männer zusammenzucken.
Der, der sie angesprochen hatte, machte eine Geste des Abscheus. »Auch noch ein verdammter Kastrat.«
Sein Nachbar machte ebenfalls ein angewidertes Gesicht. »Was mag der hier wollen? Diese Kerle stehen doch sonst immer in festen Diensten.«
Giulia sah den Wartenden an, dass sie in ihr eine gefährliche Konkurrenz sahen und sie am liebsten vertrieben hätten. Dabei war keiner unter ihnen in der Lage, eine der vielen, speziell für Kastraten geschriebenen Solostimmen zu singen. Der Mann mit der unreinen Stimme stand auf und kam auf sie zu, setzte sich aber sofort wieder, denn im gleichen Moment öffnete sich eine Pforte und ein Kirchendiener erschien. Ohne sich um die Anwesenden zu kümmern, hielt er einen dünnen Kiefernspan in die Flamme einer Kerze und zündete damit die restlichen Leuchter an. Es ging so rasch, wie es nur langjährige Übung vollbringen konnte.
Das schien das Zeichen für die Gläubigen zu sein, die nun in die Kirche strömten und ihre Plätze aufsuchten. Giulia bemerkte, dass sie und die anderen Sänger von Dutzenden Augen abgeschätzt wurden. Anscheinend stellte das wöchentliche Probesingen in Santa Ursula die Hauptattraktion in diesem Stadtviertel dar.
Spöttische Kommentare aus den ersten Reihen ließen einige von Giulias Mitbewerbern sichtlich nervös werden. Sie selbst störte sich nicht daran, denn sie war gewöhnt, vor einem ganz anderen Publikum aufzutreten als vor römischen Metzgern und Gemüsehändlerinnen. Um sich zu sammeln ließ sie ihren Blick über den reich ausgestatteten Altar wandern, der wohl vor nicht allzu langer Zeit mit neuen Kunstwerken geschmückt worden war. Neben einem Bildnis der heiligen Ursula zierte ihn ein Gemälde mit Christus am Kreuz und dem heiligen Pietro. Im Gegensatz zu der restlichen, eher altbacken wirkenden Ausstattung der Kirche gehörten die beiden Bilder zu der jetzt vorherrschenden Kunstrichtung.
Während Giulia sich noch in entspannenden Betrachtungen verlor, öffnete sich wiederum die Seitenpforte,
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