Die Kastratin
lassen. Zum einen stand die Uraufführung der Missa Papae Marcelli kurz bevor, zum anderen hätten die Mönche ganz sicher Verdacht geschöpft. »Sei mir nicht böse, wenn ich dich jetzt bitte, zu gehen, Vincenzo, aber ich muss morgen Vormittag ausgeruht bei den Proben erscheinen.« Sie atmete auf, als Vincenzo verständnisvoll nickte und die Tür von außen schloss. »Herr Vincenzo ist ein freundlicher Mann«, fand Assumpta. »So einer wie er hätte dich als Mädchen kennen lernen müssen.«
Giulia seufzte tief. »Du träumst. Für einen de la Torre wäre die Tochter eines kleinen Musikers wie ich nur ein Abenteuer für eine Nacht gewesen.«
Assumpta strich ihr über das Haar. »Ich werde dir jetzt einen Schlaftrunk bereiten, sonst liegst du mir noch die ganze Nacht wach.« Damit verließ sie die Kammer und kehrte nach einigen Minuten mit einem dampfenden Becher zurück. Sie zwang Giulia, das scharfe Gebräu zur Gänze zu trinken. Giulia würgte es. Sie glaubte, die Flüssigkeit nicht bei sich behalten zu können, schlief aber noch in Assumptas Armen ein.
Am nächsten Morgen fühlte sich Giulia noch immer elend und zerschlagen. Sie konnte nichts essen und brachte kaum einen Schluck Wasser über die Lippen. Die Zeit aber schritt unbarmherzig fort. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu machen.
Die übrigen Chormitglieder waren bereits versammelt und besprachen das Geschehen vom Vorabend in aller Ausführlichkeit. »Ich bin stolz, dass wir auserwählt wurden, die heiligen Choräle bei der Verbrennung der Ketzer zu singen«, erklärte Fra Mariano eben seinem Nebenmann. Dann fiel sein Blick auf Giulia, die blass und mit wässrigen Augen auf die Gruppe zu trat. »Was ist Casamonte? Ist Euch der gestrige Abend auf den Magen geschlagen?«
Seine Worte klangen spöttisch, aber seine Augen verschlangen sie beinahe, so dass Giulia sich beinahe nackt fühlte. Am liebsten hätte sie ihm den Rücken zugedreht und sich in ihre Partitur vertieft. Aber sie hörte den lauernden Unterton in seiner Stimme und wusste, dass sie rasch und geschickt reagieren musste. So zuckte sie mit den Achseln und versuchte, den bitteren Geschmack zu ignorieren, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte. »Ihr habt gestern ausgezeichnet gesungen, Fra Mariano. Es muss den Verurteilten wie Engelsstimmen vorgekommen sein.« Zufrieden sah sie, wie sich die Miene des Mönches bei dieser Schmeichelei glättete, und setzte noch ein paar Worte hinzu, um jeden Verdacht auszuräumen. »Leider habt Ihr Recht mit der Behauptung, dass mein Magen etwas gelitten hätte. Ich habe gestern Abend mit ein paar Freunden den Sieg der Heiligen Kirche und den Tod der Ketzer etwas zu ausgiebig gefeiert. Zu meinem Pech war der Wein stärker als ich.«
Bei den Mönchen erntete sie herzhaftes Gelächter. Nur Meister Pierluigi funkelte sie zornig an. »Ich habe ja nichts gegen ein Glas Wein, Casamonte. Aber wenn du so viel trinkst, dass dir übel wird, schadest du deiner Stimme und unserem Chor. Du wirst in den nächsten Tagen so enthaltsam leben wie eine Jungfrau, hast du mich verstanden?«
»Bis wir die Messe singen, kommt meine Stimme gewiss wieder in Ordnung«, versuchte Giulia zu witzeln.
Palestrina verzog nur grimmig das Gesicht. »Wir werden die Messe eher singen als geplant. Seine Heiligkeit geruht, Santa Maria Maggiore schon am nächsten Sonntag zu beehren, und wünscht natürlich, der Uraufführung unserer neuen Messe zu lauschen.«
»Am Sonntag schon?« Giulia erschrak nicht ganz so wie die Mönche, die ihren unerbittlichen Lehrmeister mit offenen Mündern anstarrten. Ihnen war klar, dass sie die Missa Papae Marcelli am nächsten Sonntag fehlerlos singen mussten, denn Palestrina würde ihnen jede Strophe mit dem Rohrstock einbläuen. Wie Recht sie hatten, zeigte sich noch am gleichen Tag. Der Meister ließ den Chor proben, bis die Mönche vor Erschöpfung wankten. Giulia klammerte sich zuletzt an eine Säule, um nicht vor Schwäche umzusinken. Ihre Kehle fühlte sich an wie trockenes Schuhleder, das zu lange in der Sonne gelegen war. Doch Giovanni Pierluigi kannte kein Pardon. »Casamonte, das konntest du gestern besser«, rief Palestrina sie immer wieder zur Ordnung.
Giulia versuchte, so gut zu singen, wie es ging. Sie hätte nie gedacht, unter welch schlimmen Bedingungen ihr ihre Stimme gehorchen würde. Immer wieder begann sie ihren Part von neuem, bis Palestrina schließlich ein Einsehen hatte und allen eine Pause gewährte.
Weitere Kostenlose Bücher