Die Kastratin
»Eigentlich bin ich nur hergekommen, um mich zu verabschieden«, schloss sie. »In Kürze werde ich im Auftrag des Heiligen Vaters nach Wien reisen und vor Imperatore Massimiliano secundo singen.« Ihr Vater wurde blass, und für einen Augenblick sprach der blanke Neid aus seinen Augen. Eine Reise nach Wien an den Kaiserhof war ein Erlebnis, das man nicht gerne leichtfertig verspielte. Giulia lächelte zufrieden und auch ein wenig rachsüchtig. Sollte er sich ruhig über die verpasste Gelegenheit ärgern. Es gab jetzt keine Gemeinsamkeit mehr zwischen ihm und ihr. Der Abstand zwischen einem Bordellmusikanten und einem Sänger, der vor Päpsten und Kaisern auftrat, war einfach zu groß.
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Fünfter Teil
Am Kaiserhof
I .
D er Kaiser war unzweifelhaft ein Ketzer.
Giulia traf die Erkenntnis wie ein Schlag. Nichts von dem, was sich vor ihren Augen in der Kapelle der Wiener Hofburg abspielte, entsprach dem heiligen Ritual des wahren Glaubens. Der Prediger trug anstelle des priesterlichen Ornats eine einfache, braune Kutte und hielt den Gottesdienst in deutscher Sprache und nicht, wie es vorgeschrieben war, in Latein. Auch die Lieder wurden auf Deutsch gesungen. Gerüchten zufolge sollten einige von ihnen sogar von dem Erzketzer Luther persönlich stammen.
Giulia sang nicht mit, denn sie war von dem päpstlichen Gesandten, der sie nach Wien begleitet hatte, gewarnt worden und hatte ihre Unkenntnis des Deutschen vorschieben können. Aber auch das Zuhören schien ihr beinahe schon eine Sünde zu sein, da von den Gesängen eine seltsam bezwingende Kraft ausging. Am meisten aber wunderte sie sich über die Selbstverständlichkeit, mit der die anwesenden Frauen ihre Stimme erhoben. Bei den Gottesdiensten, an denen sie bisher teilgenommen hatte, wären sie dafür mit Ruten aus der Kirche gejagt worden. Nicht umsonst verkündeten die großen Kirchenlehrer, dass ein Weib angesichts der Allmacht Gottes zu schweigen habe. Das war ja auch der Grund, warum man talentierte Knaben kastrierte. Ihre schönen hellen Stimmen mussten den Stimmumfang der Frauen ersetzen, so dass sie an deren Stelle Gott in den Domen und Kathedralen preisen konnten.
Giulia dachte an Belloni und Sebaldi, jene beiden Kastraten, die sie näher kennen gelernt hatte, und fragte sich, ob es wirklich Gottes Wille war, der einen Hälfte der Menschen das Singen zu verbieten und dafür andere in seinem Namen zu verstümmeln. Dann sah sie die brennenden Scheiterhaufen auf der Piazza dei Fiori vor sich und fror innerlich.
Sie vermisste Vincenzos Nähe und drehte sich zu ihm um. Man hatte ihm einen Stehplatz bei den Lakaien ganz hinten neben der Tür der Hofkapelle angewiesen, so als beschmutze seine Anwesenheit den illustren Kreis, der sich hier versammelt hatte. Langsam verstand Giulia, warum ihre Reise nach Wien unter einem schlechten Stern stand: Hier waren die gläubigen Anhänger der wahren Kirche nicht willkommen.
Man hatte ihnen einen beleidigend kühlen Empfang zuteil werden lassen und sie in zwei elende Kammern im ältesten Teil der Hofburg abgeschoben, die höchstens noch als Schweinestall zu gebrauchen waren. Es gab keinen Kamin und nur vier Strohschütten, die ihnen als Betten dienen sollten. Angesichts der feuchten, unbeheizbaren Räume hatte Assumpta zumindest für Giulia eine bessere Kammer gefordert. Doch ihr italienischer Wortschwall war an den Lakaien abgeperlt wie ein Regenguss, und Giulia selbst war gar nicht zu Wort gekommen, sondern von einem Diener barsch aufgefordert worden, in der Kapelle zu erscheinen.
Eine unvermittelt eintretende Stille riss Giulia aus ihren Gedanken. Der Prediger hatte sein letztes Amen gesprochen, und die Anwesenden schienen nicht so recht zu wissen, ob sie sich jetzt erheben durften, da der Kaiser keine Anstalten machte, es selbst zu tun. Gerade noch rechtzeitig bemerkte Giulia die fordernde Geste des päpstlichen Gesandten Giancarlo Piccolomini, der ihr aufgetragen hatte, nach dem Gottesdienst einen Choral von Josquin Desprez zu singen.
Piccolomini hätte auch ein moderneres Werk wählen können. Er hatte jedoch auf diesen Choral bestanden, weil dieser zum ersten Mal bei der Krönung Kaiser Maximilians I., des Urgroßvaters des jetzigen Herrschers, erklungen war. Der päpstliche Gesandte wollte den Kaiser mit diesem Werk an eine Vergangenheit erinnern, in der es noch keinen Luther und keine Ketzerei im Reich der Deutschen gegeben hatte.
Giulia glaubte nicht, dass der Choral irgendetwas gegen die
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