Die Kastratin
Andachten auch Messen nach römischem Ritus lesen.
Während Vincenzo drauf und dran war, Danilos Beispiel zu folgen, der sich von seinem Bruder ausrüsten ließ, um mit den Truppen des Kaisers zu ziehen, kam Giulia kaum mehr aus der Hofkapelle heraus. Es war, als würden alle, vom Kaiser und der Kaiserin bis hin zum letzten Höfling, glauben, allein ihre Stimme könne Gott und alle Heiligen dazu aufrufen, der bedrohten Christenheit beizustehen. Man ließ sie sogar die Sonntagsmesse in Sankt Stephan singen, um die verängstigten Bürger von Wien zu beruhigen, und verwies dabei den Solosänger des Knabenchors, dem diese Aufgabe gewöhnlich zukam, in die Reihen seiner Kameraden.
Nach zwei Wochen fiel die hektische Betriebsamkeit in sich zusammen, denn es kam die erlösende Nachricht, dass die Türken sich wieder zurückgezogen hätten. Dutzende niedergebrannter und ausgeplünderter Dörfer zeugten von den Verheerungen, die die Ungläubigen angerichtet hatten, und etliche hundert Gefangene warteten darauf, von ihren Verwandten oder anderen barmherzigen Menschen ausgelöst zu werden, da sie sonst auf den Märkten des Orients als Sklaven angeboten würden.
In allen Kirchen wurde Geld für den Freikauf der armen Menschen gesammelt. Giulia opferte leichten Herzens die Perlenbrosche, die ihr die Kaiserin geschenkt hatte, um zu diesem Samariterwerk beizutragen. Salesianermönche sollten im Auftrag des Kaisers mit dem türkischen Pascha verhandeln, um so viele Gefangene wie möglich vor der Sklaverei zu bewahren. Gleichzeitig beschloss Maximilian II ., die Grenzbefestigungen in eigener Person zu überprüfen, und verließ Wien mit dreitausend Söldnern zu Fuß und mehreren hundert Reitern.
Danilo Koloban schloss sich voller Begeisterung dem Heerbann an. Da es sich nur um eine Inspektionsreise handelte, die keine Aussicht auf Kampf und Ruhm bot, blieb Vincenzo zurück und warb weiter geduldig um die Gräfin Falkenstein, die tatsächlich zu ihrem vereinbarten Rendezvous in der Ruprechtskirche erschienen war. Da Falkenstein als Kammerherr den Kaiser begleiten musste, häuften sich nun Vincenzos Rendezvous mit der Dame. Rodegard erlaubte ihm mittlerweile, ihre Hände und Wangen zu küssen, und er war überzeugt, dass er noch vor der Rückkehr ihres Gemahls seine Rache vollenden konnte.
Mehr noch als an die Gräfin dachte Vincenzo an Giulio, denn er fühlte immer noch den scharfen Schmerz der Zurückweisung, obwohl er wirklich nur das Zimmer mit dem Kastraten hatte teilen wollen. Er verabscheute schon den Gedanken daran, mit einem Mann Zärtlichkeiten auszutauschen, auch wenn es ein Verschnittener war. Tief in seinem Herzen aber sagte ihm etwas, dass ihm an einer einzigen, liebevollen Geste Giulios zehnmal mehr gelegen war als an einem Dutzend Liebesnächte mit Rodegard von Falkenstein oder irgendeiner anderen Frau. Giulio konnte nichts für die Verirrung seiner Gefühle, das war Vincenzo klar. Aber je mehr er sich nach ihm sehnte, desto stärker wurde sein Wunsch, den Kastraten für seine abweisende Kälte zu bestrafen. So beschloss er, Giulio seinen Triumph über Falkenstein miterleben zu lassen.
Giulia dachte ebenso oft an Vincenzo wie dieser an sie. Immer wieder musste sie den Wunsch unterdrücken, zum Palais Koloban zu laufen, um nach ihm zu fragen. Sie hätte auch kaum gewusst, was sie ihm sagen sollte. Zudem schlug sie sich mit ganz anderen Sorgen herum. Ein paar Tage lang sah es so aus, als würde sie dem Kaiser ins Feldlager folgen müssen, wo sie ihr wahres Geschlecht kaum noch hätte verbergen können. Der energische Einspruch der Kaiserin aber bewahrte sie schließlich vor dieser Gefahr. Maria von Spanien beachtete Giulia zwar kaum mehr als ein Möbelstück, sagte dem Kaiser aber in aller Öffentlichkeit, dass sie bei ihrer Abendmesse nicht auf die Engelsstimme des Kastraten verzichten wolle. Giulia war ihr dafür dankbar und gab sich noch mehr Mühe, die hohe Dame zufrieden zu stellen.
Zur Verwunderung einiger blieb auch Piccolomini in Wien. Wie es hieß, habe ihn ein plötzliches Leiden daran gehindert, den Kaiser zu begleiten. Doch wenn er wirklich krank gewesen war, erholte er sich Giulias Meinung nach überraschend schnell. Er nahm schon am zweiten Tag nach der Abreise des Kaisers wieder an der Abendmesse der Kaiserin teil und bat danach um eine dringende Unterredung, die ihm auch sofort gewährt wurde. Da niemand daran dachte, Giulia zu entlassen, hörte sie einiges von der im Flüsterton geführten
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