Die Kastratin
lesen ließ, die genau in die Mittagszeit fiel und den gewohnten Ablauf in der Hofburg völlig durcheinander brachte. Danach war das Essen verkocht, angebrannt und größtenteils auch wieder kalt geworden. Da man der Kaiserin und ihrer engsten Umgebung die besten Stücke vorsetzte, bekam die Dame natürlich nichts davon mit. Dafür waren die Sachen, die Giulia und ihrem Dienerpaar aufgetragen wurden, kaum mehr genießbar.
Während Assumpta Beppo ein paar Löffel pappiger Suppe einflößte, stocherte Giulia in einem zerfallenen Brei herum, in dem ein paar fette Fleischstücke schwammen. Schließlich schob sie den Teller zurück, legte sich für eine Stunde auf ihr Bett und hoffte darauf, dass Vincenzo seine Einladung mit einem umfangreichen Abendessen krönen würde.
Nach der Abendmesse zog sie sich um und eilte in die Korngasse. Das genannte Haus lag etwas versteckt hinter einigen Hecken und war wirklich sehr klein. Als sie klopfte, öffnete ihr ein Mann mittleren Alters in einem abgeschabten Wams und fleckigen Hosen. »Ah, der erste Gast des Herrn Vincenzo ist da. Tretet ein, edler Herr. Ich habe Euch eine kleine Brotzeit und einen Krug Wein hingestellt, damit Euch das Warten nicht so schwer wird.« Er führte Giulia quer durch das ganze Haus bis zu einer dünnen Trennwand aus Rohrgeflecht, durch die man den Rest des geräumigen Zimmers überblicken konnte. In der Nische standen ein kleiner Tisch, auf dem ein eher karges Mahl angerichtet worden war, und als einziges anderes Möbelstück ein Stuhl. Der Raum jenseits der Trennwand enthielt nicht mehr als ein Bett, ein Umstand, der Giulia sehr nachdenklich stimmte.
Das Faktotum wies auf die kleine Öllampe, die gerade genug Licht spendete, dass Giulia ihren Teller sehen konnte. »Ich soll Euch von Herrn Vincenzo ausrichten, dass Ihr das Licht aus-blasen sollt, wenn vorne die Tür aufgesperrt wird. Ihr dürft auf keinen Fall bemerkt werden, soll ich Euch noch einmal ein-schärfen.«
Giulia nickte gelassen, wand sich aber innerlich vor Zweifel. Ihr Gefühl hieß sie, aufzuspringen und zu gehen, ihr Verstand aber sagte ihr, dass sie es sich dann wohl endgültig mit Vincenzo verderben würde. Zudem roch das Essen, das vor ihr stand, nach der verdorbenen Mittagsmahlzeit geradezu verführerisch. Unschlüssig sah sie dem Diener zu, der im vorderen Teil des Raumes die Kerzen in einer unter der Decke hängenden Lampe anzündete und sich noch einmal prüfend umsah. Offensichtlich war alles zu seiner Zufriedenheit angeordnet, denn er rief noch ein »Gott befohlen« über die Schulter zurück und verließ hastig das Haus.
Giulia schob ihre Bedenken beiseite und widmete sich erst einmal dem Essen. Obwohl es nur aus Brot, Butter, kaltem Braten und fetter Wurst bestand, schmeckte es ausgezeichnet. Sie trank einen Becher des leicht säuerlichen Weins dazu und beschloss, abzuwarten und Vincenzos Treffen mit dem Unbekannten zu belauschen. Dazu hatte er sie ja schließlich eingeladen. Kaum hatte sie den letzten Bissen hinuntergespült, vernahm sie von draußen Geräusche. Sie blies die Lampe aus und spitzte die Ohren. Vincenzo schien nicht allein zu sein, denn er sprach begütigend auf jemand ein, der ihm jedoch nicht antwortete.
Einen Augenblick später wurde die Tür des Raumes geöffnet, und eine in einen weiten Mantel gehüllte Gestalt huschte herein, offensichtlich eine Frau, gefolgt von einem offensichtlich stark angespannten Vincenzo. Da er mitten unter der Lampe stehen blieb, konnte Giulia die tief in sein Gesicht gegrabenen Linien sehen. Glücklich sah er nicht aus. Während er der Frau aus dem Mantel half, blickte er ein paarmal verstohlen zu dem Verschlag hinüber. Giulia überlegte, ob sie sich ihm irgendwie bemerkbar machen konnte, ohne dass sein Gast etwas davon mitbekam, fand aber keine Möglichkeit dazu.
Vincenzo wurde jetzt ganz von der ängstlich wirkenden Frau in Anspruch genommen. Der schien das Arrangement in dem Raum auch nicht zu gefallen, denn sie sah sich kopfschüttelnd um und presste die Hand auf ihr Herz. Ihr Gesicht verriet, dass sie am liebsten davongelaufen wäre. »Ich hoffe, es hat uns keiner gesehen. Bei der Muttergottes, wenn ich gewusst hätte, wie bang mir jetzt ist, wäre ich nie gekommen.«
Vincenzo zog die Frau an sich. »Holde Gräfin! Liebste Rodegard von Falkenstein, sei versichert, dass uns niemand gesehen hat. Ich habe sogar meinen Diener weggeschickt, damit er dich nicht in Verlegenheit bringen kann. Wir sind jetzt ganz
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