Die Kastratin
Frau geworden, die unter mancherlei Beschwerden litt und immer wieder vom Tod und vom Himmel redete, in dem sie Beppo einst wiederzusehen hoffte. Wie schon so oft fragte Giulia sich, ob der Preis, den sie für ihren großen Erfolg als Kastratensänger bezahlt hatte, nicht zu hoch war.
Sie erinnerte sich nur allzu gut an den Applaus und die Belohnungen, die ihr in der letzten Zeit zuteil geworden waren, und sie musste zugeben, dass sie beides genossen hatte. Als sie im letzten Herbst von Wien aufgebrochen war, hatte zunächst nichts darauf hingedeutet, dass ihre weitere Reise zu solch einem Triumphzug werden würde. Ihr Aufenthalt in München war jedoch viel besser verlaufen, als sie es erwartet hatte. Albrecht V. mochte ein intoleranter Herrscher sein, schroff, unduldsam und engherzig. Denen gegenüber, die Gnade vor seinen Augen fanden, zeigte er sich jedoch großzügig. Giulia hatte diese Gnade gefunden, so sehr, dass der Herzog sie am liebsten auf Dauer an seinem Hof behalten hätte, so wie Orlando di Lasso, der als oberster Kapellmeister in München wirkte.
Der Flame war ein ganz anderer Mensch als der in Italien so verehrte Palestrina. Giulia erinnerte sich gerne an ihn und seine Musik. Sie hatte in München sowohl in der Kapelle des Herzoglichen Hofes wie auch in der Kirche Unserer Lieben Frau etliche seiner Werke gesungen und dabei viel von ihm gelernt. In ihrem Repertoire gab es neben neuen lateinischen nun auch etliche deutsche Lieder, die sie hier in Italien wohl nur noch zum eigenen Vergnügen würde singen können. Di Lasso hatte ihr nicht nur fromme Stücke, sondern auch einige Texte mit äußerst pikantem Inhalt beigebracht, wie Männer sie gerne hörten, wenn sie unter sich waren und dem Wein zusprachen. Zu Giulias Verwunderung hatten ihr sogar Kirchenmänner begeistert Applaus gespendet, obwohl sie sonst den Gläubigen jede Verirrung der Gedanken als halbe Todsünde hinstellten.
Giulia lächelte bei dem Gedanken. Irgendwie ähnelten sich die Männer in jedem Land, ganz gleich, ob sie das Gewand eines Bürgers, das eines Edelmanns oder eine Soutane trugen. Auch Vincenzo war da nicht anders, denn er hatte sie bei den zweideutigen Liedern oft auf der Laute begleitet und ihr dabei verschwörerisch zugezwinkert.
Ihr Blick wanderte zu ihrem Begleiter hinüber, der es sich auf der gegenüberliegenden Seite der Kutsche so bequem gemacht hatte, wie es auf dieser Fahrt möglich war. Nach all dem Kummer, den er ihr in Wien bereitet hatte, herrschte zwischen ihnen nun eitel Sonnenschein. Es konnte keinen aufmerksameren und freundlicheren Gefährten geben als Vincenzo.
Er hatte ihr und Assumpta die Reisen und den Aufenthalt in den verschiedenen Städten so angenehm wie möglich gestaltet. Giulia schien es, als versuche er ständig, all die hässlichen Dinge, die in Wien geschehen waren, vergessen zu machen. Ganz war ihm das zwar nicht gelungen, aber sie hatte ihm inzwischen verziehen und fühlte sich in seiner Gegenwart glücklich und gelöst. Wenn sie allein war, überfielen sie jedoch Zweifel und Ängste, die sie sich nicht erklären konnte. Dabei hatte es bisher keine zweite Gräfin Falkenstein mehr gegeben, und soweit sie wusste, hatte Vincenzo sich mit keiner der vielen Frauen eingelassen, die ihm schöne Augen gemacht oder sich ihm sogar schamlos angeboten hatten.
Trotzdem war Giulia ein paarmal so eifersüchtig auf die ihn anhimmelnden Weiblichkeiten geworden, dass sie schon drauf und dran gewesen war, ihm ihre wahre Natur zu offenbaren und sich ihm ihrerseits an den Hals zu werfen. Doch sie fürchtete sich vor seiner Reaktion. Würde er ihr nicht den jahrelangen Betrug und all die Lügen, die zwischen ihnen standen, übel nehmen? Und selbst wenn er ihr verzieh, würde es niemals mehr so sein wie bisher. Wenn sie ihm reinen Wein einschenkte, wenn sie ihm sagte, wie sehr sie sich nach seiner Liebe sehnte, zerstörte sie womöglich all das andere, das sie sich mühsam aufgebaut hatten. Männer reagierten oft so sinnlos emotional und ließen eher gekränkten Stolz oder Eitelkeit über ihr Handeln bestimmen als die Notwendigkeiten des Lebens. Zudem nahmen sie Frauen niemals wirklich ernst. Daher wagte sie es nicht, Vincenzo jenen letzten Rest von Vertrauen zu schenken, der notwendig gewesen wäre, ihn hinter ihre Maske blicken zu lassen.
Sie hatte keinen handfesten Grund, die Situation zu ändern, und war nicht bereit, um ihrer Eifersucht willen alles andere aufs Spiel zu setzen. Ein Freund wie
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