Die Kastratin
Vincenzo, mit dem sie die Liebe zur Musik teilen konnte und der jederzeit bei ihr war, wenn sie ihn brauchte, war ein Gottesgeschenk, für das sie der Madonna jeden Tag dankte. Gleichzeitig aber war die Tatsache, dass er nicht mehr für sie sein durfte, ein bitterer Trank auf einer Tafel voll herrlichster Speisen.
Die warnende Stimme in ihrem Innern war immer noch stärker als ihre Sehnsucht nach Vincenzos Nähe. Auf ihrer ganzen Reise hatte sie nur bei den Ketzergottesdiensten in Wien Frauen in der Öffentlichkeit singen gehört, wenn sie von ein paar schmutzigen Zigeunerinnen absah, die in primitiven Buden auf den Jahrmärkten einfache Liedchen trällerten, um die Kunden auf exotische Tiere, Feuerspeier oder skurrile Missgeburten aufmerksam zu machen. Würde sie sich Vincenzo gegenüber offenbaren, durfte sie vielleicht nie mehr das Hochgefühl genießen, das die Musik eines Palestrina, eines Gabrieli oder eines Orlando di Lasso in ihr auslösten. Ihr würden die großen Kirchen und Dome, in denen sie ihre Messen, Choräle und Psalmen sang, von da an für immer verschlossen bleiben. Nein, das Risiko konnte und wollte sie nicht eingehen. Schlimmer noch, ein falsches Wort von Vincenzo oder eine Geste der Zuneigung in Gegenwart anderer würden sie verraten und vor ein Kirchengericht bringen, das für Hexen, Ketzer oder Sodomiten nur eine Strafe kannte: die Folter und den Tod im Feuer.
Sie versuchte, die Melancholie abzuschütteln, die sich ihrer wieder bemächtigen wollte, lehnte sich zurück und dachte an ihre Erfolge, die sie seit ihrem Abschied aus München gefeiert hatte. Sie waren über Salzburg, Bozen und Trient nach Süden gereist und hatten sich in jeder der Bischofsstädte mehrere Wochen aufgehalten. Bis auf Salzburg, dessen Fürstbischof Johann Jacob von Kuen-Belasy sich als wenig großzügig erwiesen hatte, war sie überall herzlich willkommen geheißen und von manchen sogar mit Tränen in den Augen verabschiedet worden. Der Salzburger dagegen hatte, was die Anerkennung ihrer Leistung und den Lohn anbetraf, seinen Koch für bedeutender gehalten als einen Sänger.
Jetzt war sie auf dem Weg nach Verona, wo man den Worten eines Boten zufolge schon sehnsüchtig auf sie wartete. Giulia freute sich, dort zu singen, und überlegte sich, ob sie danach nicht einen Abstecher nach Venedig machen sollte. Den Anweisungen nach, die sie aus Rom erhalten hatte, sollte sie spätestens zur Vorweihnachtszeit in die heilige Stadt zurückgekehrt sein, um dort bei den verschiedenen Feierlichkeiten und den großen Messen zu singen. Bis dahin war es ihr bis auf einige ihr vorgeschlagene Auftritte freigestellt, wo sie Engagements annahm. Sie beschloss, mit Vincenzo über die Reiseroute zu diskutieren, und schloss die Augen, um noch ein wenig ihren schönen Erinnerungen nachzuhängen.
Ein heftiges Rumpeln der Kutsche riss sie aus ihren Tagträumen. Erschrocken sah sie zum Fenster hinaus und blickte in eine schier in die Eingeweide der Erde führende Schlucht. Die Straße schraubte sich in einer engen, steilen Serpentine in die Tiefe, und der Kutscher hatte alle Mühe, sein Gespann zu halten. Sein Gehilfe sprang wie ein Schachtelteufel umher, um den Hemmschuh unterzulegen und wieder zu entfernen, und klammerte sich dabei wie ein Affe an den Kutschkasten. Als er sich dicht an der Wagentür vorbei schob, grinste er Giulia mit ein paar schwarzen Zahnstummeln an und sagte etwas in einem völlig unverständlichen Dialekt. Giulia nickte ihm freundlich zu und wandte sich an Vincenzo. »Ich bin froh, wenn wir in Verona sind. Die Straßen hier am Südhang der Alpen sind noch schlechter, als ich sie in Erinnerung habe. Mein Körper fühlt sich an, als hätte ich keinen gesunden Knochen mehr darin.«
Assumpta, die den Blick nicht von dem Abgrund wenden konnte, nickte eifrig und schlug das Kreuz. »Es ist, als führen wir dicht am Rachen der Hölle vorbei. Wenn der Kutscher einen Fehler macht oder wir den Hemmschuh verlieren, liegen wir zerschmettert in der Tiefe.« Giulia glaubte, eine gewisse Todessehnsucht in der Stimme ihrer Dienerin schwingen zu hören, und schüttelte sich. »Ich würde lieber aussteigen und zu Fuß gehen.«
Vincenzo lachte halb spöttisch, halb aufmunternd. »Dann bräuchtest du aber mindestens sechs Tage bis Verona, während wir auf diese Weise morgen ankommen werden. Sei doch nicht so ängstlich wie ein Mädchen, Giulio. Es wird schon alles gut gehen.«
»Und wenn nicht, ist es Gottes Wille«, antwortete Assumpta
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