Die Kastratin
und schlug gleich zweimal das Kreuz.
»Ich hoffe, es ist Sein Wille, uns unbeschadet nach Verona reisen zu lassen.« Giulias Auflachen klang reichlich kläglich, und ihr Mut sank, als hinter der nächsten Biegung ein weiteres, noch gefährlicher wirkendes Stück Weg sichtbar wurde. In den nächsten Stunden verschlugen überhängende Felswände und der Blick in die Tiefe ihr so oft den Atem, dass sie ebenso erschöpft wie erleichtert war, als sie am Abend die kleine Stadt Dolcé erreichten, in der sie übernachten wollten.
Anders als früher erwartete Giulia, ein sauberes Zimmer und ein weiches, gut gelüftetes Bett vorzufinden, und freute sich deswegen auf die Herberge. Die hohen Gagen der letzten Zeit erlaubten es ihnen, im besten Haus am Ort abzusteigen. Schon als die Kutsche in den Hof fuhr, zeigte sich der Unterschied zu früheren Zeiten. Mehrere dienstbare Geister eilten herbei, um ihnen aus dem Wagen zu helfen und ihr Gepäck abzuladen. Eine Magd in einem sauberen roten Rock und weißer Bluse bot ihnen Wasser und trockene Tücher an, damit sie sich Gesicht und Hände waschen konnten, während eine andere ihnen ein Tablett mit mehreren Bechern Wein und einem Teller voller Schmalzküchlein als Willkommen reichte.
Giulia aß eines der Küchlein und spülte es mit dem weichen, aromatischen Wein dieser Gegend hinab. Während Vincenzo mit dem Wirt sprach, wanderte sie über den sorgfältig gefegten Hof und bewunderte das große Gasthaus mit seinen weißen Wänden und dem flachen, nach römischer Art gedeckten Dach, das sich mit seiner sanften, rosa schimmernden Farbe doch sehr von den dunklen Schindeldächern des Nordens unterschied. Giulias Blick streifte einen Kräutergarten, aus dem ihr vertraute Düfte entgegen wehten, und glitt weiter zu einem dicht bewachsenen Hang, dessen Bäume und Sträucher sie an ihre Kindheit in Saletto erinnerten. Ja, dies war unzweifelhaft Italien. Doch die Freude, wieder in der Heimat zu sein, blieb aus. Es war ihr, als läge ein Schatten über der vertrauten Landschaft. Oder auf ihrer Seele.
Wehmütig aufseufzend betrat Giulia die Herberge und folgte einer kecken Magd auf ihr Zimmer. Vincenzo hatte den Raum neben ihr gewählt, und sie sah, dass ihre Betten Wand an Wand standen. Unwillkürlich musste sie daran denken, dass eine weit dickere Wand sie trennte als diese Hand voll Holz und Stein. »Seid Ihr ein Kastrat?«, unterbrach die Magd Giulias Sinnen. »Ihr seht aus wie eine Frau und zieht Euch an wie ein Mann.«
Giulia zuckte zusammen. Sie hatte alles getan, um so männlich wie möglich zu wirken, aber in der letzten Zeit waren ihre Züge weicher und ihre Formen an den für Frauen richtigen Stellen üppiger geworden. Sie musste an Sebaldi denken, dem man die Folgen der Kastration nicht angesehen hatte und der jeden glauben machen konnte, er sei ein normaler Mann, zumindest so lange, wie er seine Stimme nicht erhob. Da die Magd sie noch immer neugierig musterte, lächelte ihr Giulia zu. »Ich bin Casamonte, der Sänger.« Aus dieser Antwort konnte das Mädchen herauslesen, was es wollte. Um das kecke Ding von weiteren Fragen abzuhalten, wollte Giulia wissen, wo ihr Gepäck sei. »Dort steht es, Herr!« Die Magd zeigte auf den großen Lederkoffer an der Wand, den sich Giulia in München hatte anfertigen lassen, da er bequemer war als ihre alte Holztruhe, die unter den Reisen bereits arg gelitten hatte.
Giulia steckte dem Mädchen eine Münze zu. »Sag dem Wirt, er soll das Abendessen in einer halben Stunde servieren.«
Die Magd nickte und verschwand. An ihrer Stelle kam Assumpta herein, um Giulia beim Umziehen zu helfen. Das Gesicht ihrer Dienerin wirkte genauso verschlossen und düster wie an jenem Tag, an dem Beppo begraben worden war. Giulia hatte gehofft, dass die alte Frau aufleben würde, wenn sie sich wieder unter Menschen befand, deren Sprache sie verstand, aber es sah aus, als hätte sie sich geirrt. Da Assumpta schweigend ihre Pflicht tat, blieb Giulia ebenfalls stumm. Sie wollte nicht an ihren Kummer rühren, sondern gab sich damit zufrieden, dass sie mit gewohnter Sorgfalt angekleidet wurde. Als Assumpta ihr schließlich die Tür aufhielt, dankte sie ihr mit einem aufmunternden Lächeln und strich ihr tröstend über die runzlige Wange.
Vincenzo hatte einen Speiseraum für sie allein anmieten können und es sich dort schon bequem gemacht. Die Mägde tischten ihm eifrig auf und bedienten auch Giulia sehr zuvorkommend. Eine von ihnen warf ihr einen taxierenden Blick
Weitere Kostenlose Bücher