Die Kastratin
Assumpta herbei, damit sie mir den Morgentrunk bringt.«
Ihr Vater wollte auffahren, als ihm endlich einfiel, dass er gerade dabei war, eine schreckliche Dummheit zu begehen. Er fasste Meister Sarto am Arm und zog ihn zur Tür hinaus. »Mein Sohn hat Recht. Ihr fangt besser bei mir an. Als Vater steht mir schließlich dieses Vorrecht zu.«
Kurze Zeit, nachdem die beiden Männer gegangen waren, kam Assumpta mit ärgerlicher Miene herein und tippte sich mehrfach an die Stirn. »Dein Vater ist wohl verrückt geworden. Einen wildfremden Mann hierher zu schleppen, ohne dass wir entsprechende Vorbereitungen treffen konnten, und dann noch einen Schneider. Er fordert das Schicksal wirklich mit Gewalt heraus.«
Giulias betroffene Miene ließ sie jedoch verstummen. Sie holte den breiten Leinwandstreifen aus dem Schrank, mit dem sie Giulias Busen flach zu pressen pflegte, und forderte das Mädchen auf, das Hemd über den Kopf zu ziehen. Für einen Augenblick musterte sie Giulias wohlgeformte, aber zum Glück noch nicht allzu üppigen Brüste, und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Schande, Gottes Werk verbergen zu müssen.«
Giulia begann zu kichern. »Aber, aber, Assumpta! Soll ich etwa mit offenem Hemd herumlaufen?«
Assumpta winkte ärgerlich ab. »Du weißt schon, wie ich es meine. Dürftest du ein normales Leben führen, würde dir jetzt die Schneiderin ein neues Kleid und eine hübsche Bluse anpassen. Stattdessen lässt dich dein Vater als eine unnatürliche Kreatur herumlaufen, die von den Gassenjungen verspottet und von den höheren Herrschaften wie ein Spielzeug herumgereicht wird. Es ist eine Sünde vor Gott und eine Schande.«
»Ganz so schlimm ist es nun auch nicht, Assumpta«, versuchte Giulia den Ausbruch der Magd zu dämpfen.
»Es ist gegen Gottes Gebot, und ich darf es noch nicht einmal beichten. Nun, ich hoffe, dass dein Vater eines Tages zur Vernunft kommt und diesem Spuk ein Ende bereitet.«
Giulia hätte sie am liebsten gefragt, wovon sie dann leben sollten, aber sie schwieg. Assumpta murmelte noch etwas vor sich hin, atmete mehrmals kräftig durch und machte sich ans Werk. Da sie dem Schneider keinen Anlass zu einem Verdacht geben durfte, schnürte sie den Busen diesmal so fest, dass Giulia kaum noch Luft holen konnte. Das Mädchen protestierte heftig, doch die alte Frau ließ sich nicht beirren. »Besser für ein paar Minuten Schmerzen, als von einem windigen Schneider entlarvt zu werden, wo du doch sogar Don Giantolo täuschen konntest«, erklärte sie mit Nachdruck und befestigte das Ende des Leinenstreifens mit einer kleinen Nadel. Nachdem sie noch ein wenig daran gezupft und Giulia das Hemd übergezogen hatte, nickte sie zufrieden. »So müsste es gehen. Du musst nur darauf Acht geben, dass der Mann dich nicht zu sehr anfasst.«
Giulia zog unbehaglich die Schultern hoch. »Es wäre vielleicht besser, du würdest mir das Maß nehmen und es Signore Sarto in die Feder diktieren.«
»Damit er dann wirklich Verdacht schöpft? Nein, mein Kätzchen, wir schlagen diesem Schneider schon ein Schnippchen, verlass dich drauf.«
Giulia teilte Assumptas Optimismus nicht, war dann aber doch erleichtert, als Meister Sarto sein Werk mit größter Zurückhaltung begann. Anscheinend hatte ihr Vater ihm mitgeteilt, dass es sich bei seinem Sohn um einen Kastraten handelte, denn er ließ die Stelle zwischen ihren Beinen absolut in Ruhe und berührte sie auch sonst nur, wenn es unumgänglich war. Giulia war trotzdem froh, als der Schneider wieder abgezogen war und sie sich von Assumpta von der straffen Binde um ihre Brust befreien lassen konnte. Kurz darauf suchte sie ihren Vater in dessen Zimmer auf. »Ich hoffe, du ziehst die Lehre aus dem heutigen Vorfall und verzichtest in Zukunft auf ähnlich überraschende Aktionen«, schalt sie ihn leise, aber durchaus scharf.
Girolamo Casamonte zuckte unter ihren Worten zusammen. »Entschuldige, mein Kind. Ich habe einfach nicht mehr daran gedacht.«
»Ich muss jeden Tag, jede Minute daran denken. Ich will nicht auch noch auf dich aufpassen müssen.« Giulia blickte von oben auf ihren Vater herab, und für Augenblicke schienen ihre Rollen vertauscht zu sein. Jetzt war sie es, die befahl, während ihr Vater verwirrt auf den Boden starrte und nicht wusste, was er antworten sollte. Bisher war es stets umgekehrt gewesen. Doch nun fühlte Giulia, dass sich ihr Verhältnis zu ihrem Vater wandelte. Er war nicht mehr die allein entscheidende Instanz, der sie sich in allem
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