Die Kastratin
den Speisesaal mitgenommen, ihn aufgefordert, sich neben ihn zu setzen, und den Dienern befohlen, ihnen vorzulegen. Als Sohn eines nachrangigen Musikanten hatte Giulio nicht begriffen, dass er nicht mehr vor den hohen Herren buckeln musste, sondern ein großer Künstler war, der auch fordern konnte.
Wenn Giulio jetzt einen Diener herbeiwinkte, geschah dies mit einer Grandezza, für die ihn die Damen verzückt anhimmelten. Das ging so weit, dass einige Frauen Vincenzo sogar schon um ein Stelldichein mit dem jungen Kastraten gebeten hatten. Er hatte die Bitten an Giulio weitergetragen und war von dessen Gelächter überrascht worden. Wie es aussah, hatte dieser Kastrat nichts für Frauen übrig. Aber Giulio schien auch kein anderes, unnatürliches Interesse zu haben. In gewisser Weise konnte man ihn für ein geschlechtsloses Wesen halten. Dieser Eindruck verlor sich jedoch sofort, wenn er seine Stimme erhob und eine Leidenschaft verströmte, die alle in ihren Bann schlug.
Vincenzo schrieb sich ein gut Teil des Verdienstes an Giulios Weiterentwicklung zu und war daher recht zufrieden mit sich selbst und mit seinem Schützling, obwohl dieser immer noch keinen der großen Gesangslehrer aufgesucht hatte. Das lag aber weniger an Giulio oder seinem Vater als an der Tatsache, dass sie jeden Herbst zu der Gräfinwitwe von Falena zurückgekehrt waren, da die alte Dame nicht auf die heilsamen Dienste des Kastraten hatte verzichten wollen. Vincenzo und Pater Franco hatten jedoch alles getan, was in ihrer Macht stand, Giulios Stimme zu schulen und ihm mehr Sicherheit im Umgang mit seinen Auftraggebern zu vermitteln. Da die Gräfinwitwe in diesem Sommer gestorben war, hatte Giulio sich entschlossen, endlich die lang geplante Reise nach Rom anzutreten.
Wegen der abschreckenden Berichte über das Räuberunwesen in der Gegend um Rom hatten sie sich mit einigen anderen Reisenden zusammengetan und fuhren mit insgesamt fünf Kutschen und mehreren Frachtwagen auf der Via Flaminia nach Süden. Der Anführer ihrer Gruppe, ein Adliger aus der Campania, hatte eine Schar kräftiger Reiter bei sich, und auf seinen Rat hin hatten alle zusammengelegt und in Viterbo eine Gruppe ehemaliger Landsknechte als Geleitschutz angeworben. Damit konnte Vincenzos Meinung nach nichts mehr schief gehen, und er freute sich schon auf das Wiedersehen mit einem der besten Musiklehrer Roms, seinem Freund und Namensvetter Vincenzo Galilei.
Gerade, als er in den angenehmen Erinnerungen an seinen letzten Romaufenthalt versinken wollte, wurde es draußen unruhig. Der Kutscher stieß einen wütenden Fluch aus und zog die Zügel so straff, dass die vier in der Kutsche gegeneinander geworfen wurden. Vincenzo öffnete die Lederplane, die die Fensteröffnung verschloss, und wollte Beppo, der neben dem Kutscher saß, fragen, was denn los sei. Doch da sah er es selbst. Auf den Hügeln neben der Straße tauchten zerlumpte Männer auf, die schreiend und Waffen schwingend auf den Wagenzug zurannten. Vincenzo erwartete, dass die Reiter ihres Anführers und die angeworbenen Söldner die Angreifer vertreiben würden. Doch zu seinem Entsetzen winkten diese den Räubern johlend zu und bedrohten ihrerseits die Reisenden.
Vincenzo griff nach seinem Degen, der an einem Haken in der Kutsche hing, doch er erkannte rasch, dass Widerstand ein zwar mutiges, aber sinnloses Unterfangen darstellte. Die Räuber und die mit ihnen verbündeten Wachen hatten sie schlichtweg überrascht. Vor jeder Kutsche versammelten sich jetzt einige schwer bewaffnete Kerle, bedrohten grinsend die Reisenden und zwangen sie auszusteigen. »Macht keinen Unsinn, sonst …!« Ein kleiner, glatzköpfiger Kerl namens Benedetto, den Vincenzo bis zu diesem Augenblick für den Anführer der campanischen Reiter gehalten hatte, machte die Geste des Halsabschneidens, und der Anführer der Reisegruppe, der sich für einen Baron ausgegeben hatte und in Wahrheit der Räuberhauptmann zu sein schien, lachte hämisch. Vincenzo blieb nichts anderes übrig, als sich über sich selbst und sein mangelndes Misstrauen zu ärgern. Giulio war offensichtlich geschockt, denn er barg sein Gesicht in den Händen wie ein ängstliches Mädchen. Sein Vater griff zu seinem Beutel, löste dessen Riemen und versteckte ihn unter dem Polster seines Sitzes. Da steckte auch schon einer der Räuber den Lauf seiner Flinte durch die Fensterluke und forderte sie mit barscher Stimme zum Aussteigen auf. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als der
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