Die Kastratin
Einige seiner Spießgesellen kamen auch schon mit erhobenen Waffen näher. Doch er rief sie mit scharfer Stimme zurück. »Halt, tut dem Kerlchen nichts. Er mag zwar klein und mickrig aussehen, doch er hat die Stimme eines Riesen.«
Benedetto, der den Anführer der campanischen Reiter gespielt hatte und in Wahrheit die rechte Hand des Räuberhauptmanns war, sah immer noch verdattert drein. »Bei Gott, ich habe noch nie gesehen, dass ein Mensch einen Weinkelch allein mit seiner Stimme zum Zerspringen bringt.«
»Ich habe es einmal erlebt«, erklärte der Anführer mit völlig veränderter Stimme. »Ein junger Kastrat hat es getan, als man ihn das erste Mal seinem Herrn vorstellte. Während die Diener die Kleidung des Edelmanns säuberten, gelang es dem Kastraten, eine der Scherben an sich zu nehmen. Er hat sich damit die Kehle durchgeschnitten, weil er mit seiner Verstümmelung nicht weiterleben wollte.«
»Das tut mir Leid«, flüsterte Giulia betroffen.
Der Räuber wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er böse Erinnerungen vertreiben. »Er war mein Bruder.«
Er sagte es so leise, dass es niemand außer Giulia hörte. Während er sein Wams auszog und einem der gefangenen Adligen, dessen Figur der seinen glich, die Kleidung abforderte, befahl er seinen Männern, höflich zu dem Nichtmann zu sein. »Wir haben nicht oft einen großen Sänger zu Gast.«
Als er wieder auf seinem Platz saß, nickte er Giulia auffordernd zu. »Mein Freund, es würde mich freuen, eine Probe deines Könnens zu hören.«
Lucretia Gonfale, eine Dame mittleren Alters, rang beschwörend die Hände. Um ihren Hals zog sich eine rote, blutige Spur, so brutal hatten ihr die Räuber den Schmuck abgerissen. »Bitte tut es, Casamonte. Sie bringen uns sonst noch alle um, und uns Frauen tun sie vorher noch schreckliche Dinge an.«
»Dir alten Vettel gewiss nicht, aber deine drei Täubchen wären gerade der rechte Happen für mich.« Benedetto lachte wie in Vorfreude auf und ließ seine Augen lüstern über Lucretia Gonfales Töchter schweifen.
Sein Anführer sah diesen Blick und verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. »Pfui, Benedetto. Willst du etwa, dass die Leute sagen, Alessandro Tomasis tapfere Männer seien Halsabschneider und Frauenschänder?« Sein Lachen erschreckte Giulia. Der Mann war unberechenbar. Im Augenblick empfand er Mitleid mit ihr, weil sie ihn an seinen toten Bruder erinnerte. Kurz vorher aber hatte er sie zum Gespött seiner Kameraden machen wollen. Solange ihr Schicksal und das der anderen Reisenden in seiner Hand lagen, waren sie ihres Lebens nicht sicher. Obwohl die Angst ihr schier die Kehle zuschnürte, musste sie die Räuber und vor allem den Anführer bei guter Laune halten.
Sie trat vor, verbeugte sich geziert vor Tomasi und begann mit klarer Stimme zu singen. Die Räuber hielten in der Ausplünderung der Reisenden inne und drehten sich zu ihr um. In ihren Augen lag beinahe kindliches Erstaunen. Auch der Anführer starrte Giulia mit offenem Mund an, und als sie endete, klatschte er begeistert in die Hände. »Vielleicht hätte sich mein Bruder doch nicht umbringen sollen. So eine Stimme ist wirklich ein Opfer wert«, sagte er, ohne seine Stimme zu dämpfen.
»Aber gewiss nicht das der Hoden.« Benedetto schüttelte wild den Kopf. »Aber du hast Recht, Hauptmann. Nie zuvor habe ich etwas Lieblicheres gehört. Wir sollten das Kerlchen bei uns behalten, damit es immer für uns singen kann.«
Diese Androhung ließ Giulia erbleichen. Sie begriff jedoch, dass sie sich ihre Angst nicht anmerken lassen durfte. »Was bietet Ihr für eine Gage?«, fragte sie den Kahlkopf keck. »Kastraten sind nämlich teuer und anspruchsvoll. Ich glaube nicht, dass mir ein harter Strohsack als Lager genügt.«
Der Kerl schluckte verblüfft und hob drohend die Hand mit dem Dolch. Ein kurzes Wort des Hauptmanns aber ließ ihn zurücktreten. »Lass es gut sein, Benedetto. Wenn du den Kleinen abstichst, kann er nicht mehr für uns singen.« Er wandte sich dabei Giulia zu und forderte sie barsch auf fortzufahren.
Vincenzo fand es an der Zeit, Giulia beizustehen. Er hob die Hand, um Alessandro Tomasi auf sich aufmerksam zu machen, und trat ein paar Schritte vor. »Wenn Ihr mir meine Laute zurückgebt, kann ich Casamonte darauf begleiten.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee.« Tomasi nahm einem der Räuber das Instrument ab und reichte es Vincenzo. Dieser prüfte noch einmal die Spannung der Saiten und schlug die Melodie zu
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