Die Kastratin
Briefen zurück und warf sie auf den Tisch. »Das sind die Briefe der Gräfinwitwe. Sollen sie wertlos geworden sein, nur weil du es nicht erwarten konntest, zu den Huren ins Bett zu steigen?«
Ihr Vater hatte sie noch nie so zornig erlebt, und auch Vincenzo musste seinen Eindruck revidieren. So kühl und beherrscht, wie er zunächst angenommen hatte, war der junge Kastrat nun doch nicht. Obwohl er seinen Ärger verstand, betonte er noch einmal die Gefahr, die von den jungen Adligen aus dem Kreis um Olimpia Cotturi ausging. »Es ist wirklich besser, Ihr reist ab. Ich traue diesen Lümmeln, die Euren Vaters misshandelt haben, durchaus zu, sich auch an Euch zu vergreifen.« Vincenzo sah, wie sich Giulios Wangenmuskeln spannten. Der Blick, den der junge Nichtmann seinem Vater zuwarf, war vernichtend. Dann verschwanden die Gefühle hinter einem nichts sagenden Gesichtsausdruck.
Giulia kochte innerlich, aber sie ärgerte sich auch über ihren Gefühlsausbruch, der ihren Gast ganz offensichtlich schockiert hatte. So sammelte sie die Empfehlungsbriefe ganz ruhig ein, als wäre nichts Besonderes geschehen, und steckte sie unter das Wams. »Was schlagt Ihr vor?« Sie bezog Vincenzo wie selbstverständlich in die Überlegungen ein und ließ deutlich erkennen, dass sie seiner Meinung den Vorzug vor der ihres Vaters gab.
Vincenzo dachte kurz nach. »Ich wollte zu einer Tante in Cremona reisen, in der Hoffnung, dass sie mir das Geld gibt, das ich hier in Modena schuldig bleiben musste, ohne mich dafür meinem Bruder auszuliefern.«
Giulia musste ein verblüfftes Lächeln unterdrücken. »Seid Ihr von zu Hause ausgerissen?«
»Ja, gewiss, wenn Ihr es so nennen wollt. Ich habe mich mit meinem Bruder nie verstanden. Andrea ließ mich schon als Kind fühlen, dass er der Erbe der Besitzungen unseres Vaters sein würde, und er wird höchstwahrscheinlich dafür sorgen, dass ich mit einem spanischen Offizierspatent nach Amerika geschickt werde und nie mehr zurückkehren darf.«
Die Bitterkeit, die aus seinen Worten sprach, tat Giulia weh. Sie sah ihn förmlich als kleinen Jungen vor sich, der nach Liebe bettelnd vor dem älteren Bruder stand. Doch dieser empfand ihn nur als unwillkommenen Störenfried und stieß ihn weg. Innerhalb eines Augenblicks traf Giulia ihre Entscheidung. »Wie hoch sind Eure Schulden?«
Vincenzo nannte ihr verwundert die Summe. Es war nicht übermäßig viel, aber für jemand wie ihn, der auf die Großzügigkeit anderer angewiesen war, nur durch ein Wunder aufzubringen.
Giulia musterte ihren Vater mit einem kühlen Blick. »Ich würde vorschlagen, dass du Messer de la Torre diesen Betrag vorstreckst. Wir werden ihn nach Cremona begleiten, wo er uns bei seiner Tante einführt. Das ist fast genauso gut wie ein Empfehlungsschreiben der Gräfinwitwe.«
Girolamo Casamonte nickte eifrig. Er hätte alles getan, damit sich seine Tochter bereit erklärte, Modena zu verlassen. Vincenzo hingegen focht erneut einen Kampf mit sich selbst aus. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Bärenführer für einen Kastraten spielen zu müssen. Doch die Alternative hieß, zu Fuß und mit hungrigem Magen nach Cremona zu pilgern, mit nichts als der Aussicht, dass ein übereifriger Türsteher seiner Tante ihn als Vagabund einstufte und abwies.
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Vierter Teil
Rom
I .
V incenzo de la Torre versuchte, in der engen Kutsche festen Halt zu finden, doch bei jedem Schlagloch wurde er erneut gegen Girolamo Casamonte geschleudert. Mehr denn je sehnte er sich nach einem Pferd. Es war doch bequemer, hoch zu Ross dahinzutraben, als in einem rumpelnden Kasten zu sitzen und sich ständig festklammern zu müssen. Mit einem Anfall von Neid betrachtete er Giulio Casamonte, der den Kopf auf Assumptas Schulter gelehnt hatte und tief und fest zu schlafen schien. Der Kastrat lächelte sogar, so als machten ihm die Unannehmlichkeiten der Reise nicht das Geringste aus. Vielleicht träumt er vom Singen, dachte Vincenzo, denn nur dann hatte er so gelöst gewirkt wie in diesem Augenblick.
Giulios Wams war hochgerutscht, daher konnte Vincenzo seine für einen Kastraten ungewöhnlich ebenmäßige Figur betrachten. Der Nichtmann besaß Rundungen, um die ihn gewiss manche Frau beneidete. Hätte er ein wenig mehr Busen und ein nicht ganz so herbes Gesicht, würde er in Frauenkleidern und mit längeren Haaren eine bemerkenswert hübsche Frau abgeben. Aber es war nicht das angenehme Äußere und noch weniger Giulios spröder Geist, die
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