Die Kathedrale der Ketzerin
ehrlich
gemeint: eine Freundin. Eine von vielen. Ein Mensch, mit dem er manches
teilte. Aber nicht alles. Und schon gar nicht sein Herz. Voller Leichtsinn
hatte sie sich selbst über die wahren Verhältnisse betrogen.
Mit einem Mal aber befand sie sich unter Menschen, die offen über
alles sprachen, was sie berührte, über Schmerzen, die sie verspürten, über kaum
erträgliche Ängste, die sie lähmten, und die sich fragten, welchen Sinn Leid
und Kummer, die doch so übermächtig herrschten, dem Leben geben sollten. Wie
klein war da doch der eigene Schmerz über eine unerwiderte ausgedachte Liebe!
Clara fühlte sich wie neu belebt.
»Die menschliche Seele ist nichts anderes als der abtrünnige Geist,
der im Ursprung der Welt aus dem Himmel verbannt wurde und zu ihm zurückkehren
wird, wenn er sein wahres Wesen erkannt hat.«
Sie verstand diesen in den schmutzigen Keller hineingesprochenen
Satz nicht, aber er begleitete sie den ganzen folgenden Tag hindurch. So, als
wolle er sie zwingen, sich an etwas zu erinnern, das zwar in unendlich ferner
Vergangenheit lag, dessen sie sich aber entsinnen müsse, da es von ungeheuerer
Wichtigkeit für ihr weiteres Leben, für ihre eigene Zukunft, war. Das Gefühl
einer Verheißung, einer Hoffnung.
Sie würde Felizian bitten, ihr Unterricht zu geben, sie alles zu
lehren, was er über diese aufregend fremde Welt wusste, die so plötzlich in ihr
Leben eingebrochen war, alle Gefühle und Gedanken auf den Kopf gestellt und
ihre Seele berührt hatte.
Bei dem Gedanken, schon an diesem Abend Weiteres zu erfahren, drohte
ihr Herz überzufließen. Felizian wollte am Rosenfenster der entstehenden
Kathedrale wieder auf sie warten. Falls sie sich abermals davonstehlen könnte,
hatte sie gesagt. Davonstehlen … etwas Verbotenes tun …
Aber nein, das waren doch nicht wirklich Ketzer! Felizian betete
schließlich zum selben christlichen Gott wie der königliche Hof. Er war tief
gläubig. Ein guter Mann, der ihr in der Not beigestanden hatte und sich dafür
sicherlich von niemandem mit einem Schmuckstück und einem galanten Gesang hätte
belohnen lassen.
Über all diese Gedanken wären ihr fast Theobalds Abschiedsworte an
sie entgangen:
»Im grauen Nordmeer deiner Augen
ertränk ich gern.
Doch dazu kann ich nimmer taugen;
du stehst zu fern.
Dir würd’ ich Kathedralen bauen,
doch lass mich, Freundin, dich nur schauen.«
Solche Verse hatte er ihr noch nie gewidmet; ihre Pupillen
weiteten sich, und die Erinnerung an die verlorene Liebe klopfte wieder an ihr
Herz. Doch ein spöttischer Blitz aus einstmals so geliebten violetten Augen
begleitete die nächsten Zeilen:
»Es ist dem Zufall zuzuschreiben,
wohin der Blick des Mannes irrt,
wer mit ihm geht, und wer soll bleiben,
und was aus beiden Damen wird.«
Clara begriff. Theobald würde ihr nie im Leben eine
Kathedrale bauen. Und schon gar nicht im grauen Nordmeer ihrer Augen ertrinken
wollen. Doch die Ernüchterung war erstaunlich schmerzlos: Hätte sie, Clara, am
Vortag neben Blanka gestanden, als er die Verstoßung seiner Gemahlin besungen
hatte, wäre seine Wahl auf sie und nicht auf Agnes gefallen.
Rasch sah Clara zu Agnes, mit der
sie sich seit Kindertagen ein Bett teilte. Deren Augen strahlten; Theobalds
Zynismus und seine ungeheure Anspielung waren ihr gänzlich entgangen.
Unendliche Traurigkeit nahm von Clara Besitz. Die weiche Haut ihrer
Freundin würde unter der lieblosen Berührung ihres künftigen Gemahls
dahinwelken. Und ihre Seele darben.
»Adieu«, sagte Clara kurz und senkte die Lider.
2
Entscheidung
Das Herz ist also geschaffen, nicht mit sich selbst
übereinzustimmen; es hüpft von einem Entschluss zum nächsten, es handelt gegen
seinen Willen und seinen Rat, erschafft Neues, nimmt Altes auseinander, setzt
es dann wieder zusammen; es will und es will nicht, ist vernarrt in dies und
jenes, von vielem besessen und sucht einen Ort zum Ausruhen. Eitelkeit
enttäuscht es, Neugierde erregt es, Begehrlichkeit schmerzt es, Lust formt es,
Neid betrübt es, Zorn verwirrt es, Traurigkeit erzürnt es.
Aus »Spiegel der Seele«,
einer Königin Blanka gewidmeten Handschrift
5. August 1223
F ehlt dir hier in Reims dein heimlicher Geliebter, oder
ist er vielleicht gar zur Krönung mitgekommen?«, stieß Blanka zwischen nur
halb geöffneten Lippen hervor. Die Königin musste auf ihre Mimik achten, da die
Paste aus zerstoßenen Erbsen und Eiweiß auf ihrem Gesicht bereits hart geworden
war und keinesfalls abbröckeln
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