Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
Menschen, die sie gerettet und gepflegt hatten, über den Sturm
auf die Stadt, ihre Todesangst und den zerschmetterten Kindskörper, der sie in
ihren Albträumen so lange unbarmherzig heimgesucht hatte. Über das ganze
Grauen.
    Mit Theobald hatte sie darüber nie gesprochen. Nicht einmal damals,
während der langen Reise an den Königshof. Ihm hatte sie eine Halbwahrheit
aufgetischt, da sie weder Vater und Bruder verraten wollte, noch Freundliches
über die Häretiker sich zu sagen getraute und sich ihrer eigenen Unwissenheit
geschämt hatte.
    Sie habe ihre Familie nur kurz besuchen wollen und sei auf dem
Rückritt überfallen und ohne ihr Wissen nach Marmande verschleppt worden, hatte
sie Theo und später auch Blanka erzählt. Und bestürzt geschwiegen, als Ludwig
seiner Empörung Ausdruck gegeben hatte, dass die Ketzer nicht einmal davor
zurückscheuten, Angehörige des Königshofs als Geisel zu nehmen, um sie als
Schutzschild gegen den Sturm auf die Stadt zu missbrauchen.
    Zur Beruhigung ihres Gewissens hatte sich Clara große Mühe gegeben,
die von ihr ersonnene Lüge als reine Wahrheit anzusehen. So genau wusste sie ja
schließlich auch nicht, was damals tatsächlich mit ihr geschehen war.
Schließlich war sie nach dem Sturz vom Pferd erst im Haus der guten Menschen zu
sich gekommen. Sie verbannte die Bilder ihrer freundlichen und später
hingemetzelten Gastgeber aus dem Gedächtnis. Erst, nachdem sie Felizian
begegnet war, fand sie zur Wahrheit zurück – und wie durch ein Wunder
verschwand das heruntergestürzte Kind aus ihren Träumen.
    Vielleicht hatte sie Felizian vertraut, weil seiner Sprache der
Klang des Südens anhing. Seine Rede ließ fast vergessene Szenen aus ihrer
Kindheit wieder lebendig werden. Wie ihr großer Bruder Raimund sie zum ersten
Mal auf ein kleines weißes Pferd gesetzt und sie das Reiten gelehrt hatte, wie
ihr Vater eine Magd zurechtwies, die sie als Kind einer verfluchten Mutter bezeichnet hatte, wie sie ein Bettler einmal
nach einem Sturz in einen Bach auf den Schultern nach Hause getragen und
ihr wundervolle Geschichten erzählt hatte. Felizians Stimme brachte Clara die
Vergangenheit zurück, die Erinnerung an das lieblich duftende Land, das sie
gegen die Enge der stinkenden Stadt hatte eintauschen müssen. Die Erinnerung an
eine Zeit, da sie Teil einer Familie gewesen war.
    Sie hing an seinen Lippen, ließ seine Worte auf sie einwirken und
wartete auf ein großes Wunder: dass dadurch auch die Erinnerung an eine
Mutter zurückkehren würde, von der ihr kein Bild, keine Stimme, kein Geruch,
keine Berührung geblieben war. Nichts wusste sie über die Frau, die sie geboren
hatte.
    Als kleines Mädchen hatte sie
sich oftmals vorgestellt, ihre Mutter sei eine schöne fremdländische Prinzessin
gewesen, deren Vater – ein böser König, natürlich – dem Glück zweier Liebenden
im Weg gestanden und ihre Mutter gezwungen hatte, den Bastard am Hof von
Toulouse abzugeben. Als sie später rechnen lernte, war die Enttäuschung groß.
Zum Zeitpunkt ihrer Zeugung und Geburt war Raimund schon längst mit seiner
fünften Gemahlin, Eleonore von Aragon, verheiratet gewesen.
    Auf Fragen nach ihrer Mutter gab niemand Antwort, und später fand
Clara heraus, dass die Erwähnung zweier Frauen am Hofe des Grafen von Toulouse
unter Strafe gestellt war: Weder über ihre Mutter noch über eine Schwester
des Grafen, die ungefähr zum gleichen Zeitpunkt ebenfalls verschwunden und
niemals zurückgekehrt war, durfte gesprochen werden.
    Am Tag vor ihrer Entsendung an den königlichen Hof von Paris flehte
sie ihren Vater an, ihr zumindest den Namen der Mutter zu nennen.
    »Sie fehlt mir doch so!«
    »Wie kann dir fehlen, was du nicht kennst?«, erregte sich der Graf
von Toulouse.
    Sie entsann sich noch ihres Nachsetzens: »Aber jeder hat doch eine
Mutter.«
    »Du nicht!«, hatte er mit gefährlich leiser Stimme geantwortet.
    Nicht einmal zu welcher Zeit ihre Mutter verschwunden war, wusste
Clara. So hegte sie die stille Hoffnung, in irgendeiner Kammer ihres Herzens
noch einen Fetzen der Erinnerung an die Mutter aufbewahrt zu haben. Der wie ein
verlegtes Schmuckstück nur gefunden werden musste. Lange Zeit hatte sie große
Hoffnung auf ihre Träume gesetzt; dass ihr darin eine schöne fremde Frau
erscheinen würde, von der sie zweifelsfrei wüsste, dass dies ihre Mutter war.
Eine Frau, der sie irgendwann zufällig begegnen und die sie dann erkennen
würde. Clara malte sich aus, wie sie einander

Weitere Kostenlose Bücher