Die Kathedrale der Ketzerin
tränenüberströmt umarmen würden
und sie endlich Antwort auf alle Fragen erhielt. Wie sie den Rest ihres Lebens
mit der Mutter zubringen würde. Nichts dergleichen geschah.
Aber jetzt war ihr Felizian begegnet, der Mann aus dem Süden, der so
viele verschüttet geglaubte Erinnerungen ans Licht
gefördert hatte. Warum nicht auch diesen unbezahlbaren Schatz?
Über seine eigene Vergangenheit berichtete Felizian wenig.
Clara erfuhr nur, dass er aus Carcassonne stammte, wo seine alte Mutter immer
noch lebte. Nach der Rückeroberung der Stadt durch Claras Bruder war er sechs
Jahre zuvor in den Norden gezogen, um dort den Glauben der guten Menschen zu
verbreiten und sich selbst in Demut zu üben, um zu einem Perfectus
heranzureifen.
Mehr aber als die vertrauten Laute bestrickte Clara, dass er über
niemanden je ein Urteil fällte und keinem Menschen Vorwürfe machte. Er zeigte
sogar Verständnis für die Franzosen, »die handelten, wie ihnen gesagt wurde,
und es eben nicht besser wüssten«. Er verdammte seine Feinde nie, bezeichnete
sie nicht einmal als solche.
»Unsere sichtbare Welt ist das Werk Satans«, erklärte er immer
wieder. »Er hat die gefallenen Engel, also unser aller Seelen, mit einem Körper
versehen, der sie an ihn kettet und den er nach Belieben quälen kann. Alles ist
gleich. Dem Menschen ist kein freier Wille gegeben, Gutes oder Böses zu tun.«
Claras Widerspruch, Gott der Allmächtige habe eine vollkommene Welt
in sieben Tagen erschaffen, setzte er die Frage entgegen, wie vollkommen denn
das Werk sei, das ein vollkommener Schöpfer in solcher Eile angeblich
abgeliefert hätte.
»Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte abgeben«, betonte er
immer wieder. Warum komme es denn zu Siechtum, Mord und Totschlag, zu
Hungersnöten, Erdbeben, Krankheiten, Überschwemmungen und Kriegen, wenn der
Gott der Welt so allmächtig und allgütig sei? Warum erhöre er nicht die
vielen Hilferufe der Notleidenden? Warum sei der Mensch zum Sterben
verdammt? Warum lasse Gott das Böse denn überhaupt zu?
»Weil er uns Prüfungen auferlegt«, hatte Clara geantwortet; das sei
doch bei Hiob anschaulich nachzulesen.
Felizian gab zu, dieser Teil des Alten Testaments könne durchaus
unter der Mitwirkung des guten Gottes entstanden sein, wie auch das Buch der
Weisheit, die Psalmen und das Buch Salomons. Das Buch Hiob sei ein Hinweis
darauf, wie mächtig der Teufel sei, des guten Gottes Gegenspieler. Ansonsten
sei das gesamte Alte Testament unverkennbar Teufelswerk. Die handelnden
Personen stünden dem Satan weitaus näher als einem liebenden Gott. An Moses,
dem rücksichtslosen Machtbesessenen, wie er sagte, ließ er kein gutes Haar und
zitierte aus dem Buch Exodus, wie Moses vor das Lagertor trat und die Leviten
um sich versammelte: Jeder
lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage
seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten .
Felizian nannte Abraham einen Lüstling und Noah einen Säufer und
Kinderschänder. David sei ein Mörder gewesen, noch dazu aus niederen
Beweggründen, sagte er und trug Clara Verse aus dem Buch Samuel vor: … als sich David auf
den Weg machte und mit seinen Leuten zog; er erschlug zweihundert von den
Philistern, brachte ihre Vorhäute zum König und legte sie vollzählig vor ihn
hin, um sein Schwiegersohn zu werden.
Clara lauschte entsetzt, als Felizian Worte aus dem Buch Jeremia
heranzog, um ihr zu beweisen, dass hier Satan sprach und nicht der Gott der
Liebe und Vergebung: »Erinnerst du dich an die Geschichte von Babel, Clara?
Dieser angebliche Gott sagte über Babel: Du warst mein Hammer, meine Waffe für
den Krieg. Mit dir zerschlug ich Völker, mit dir stürzte ich Königreiche. Mit
dir zerschlug ich Ross und Lenker, mit dir zerschlug ich Wagen und Fahrer, mit
dir zerschlug ich Mann und Greis, mit dir zerschlug ich Knabe und Mädchen, mit
dir zerschlug ich Hirt und Herde, mit dir zerschlug ich Bauer und Gespann, mit
dir zerschlug ich Statthalter und Vorsteher. Ach, Clara, hier hat
die Feder nicht Gott geführt, sondern der Satan selbst.«
Das klang alles höchst ketzerisch in Claras Ohren, er aber zitierte
viele weitere Verse des Alten Testaments und schien alles belegen zu können. So
erkundigte sie sich zutiefst besorgt nach Felizians Einstellung zu Jesus von
Nazareth.
Den verehrte er. Aber er sah ihn nicht als Menschen, auch nicht
unbedingt als Gottes Sohn, sondern als vollkommensten aller Engel, der auf die
Erde hinabgestiegen war, um die
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