Die Kathedrale der Ketzerin
durfte.
Clara erschrak. Glücklicherweise war ihr Gesicht unter einem Tuch über
der Dampfschüssel verborgen, die zuvor der Königin zur Gesichtsreinigung
gedient hatte. Clara starrte auf die müden Veilchen, die im nicht mehr
sonderlich heißen Wasser umhertrieben, und entschied, mit einem geräuschvollen
Schnäuzen, die Frage überhört zu haben. Sie hob den Kopf von der Schüssel,
wischte sich ausgiebig Nase und Wangen mit dem Tuch ab und lehnte sich zurück.
Eilig verrührte die Kammerfrau die bröckligen Reste der Paste im Töpfchen mit
etwas Rosenwasser zu einer abermals
geschmeidigen Masse. Doch bevor eine Gehilfin Claras Gesicht damit
überziehen und reglos machen konnte, hob Blanka die Hand.
»Du hast mich gehört«, sagte sie ohne Rücksicht auf die eigene
Schönheitsmaske, die sich augenblicklich mit einer Vielzahl von Rissen rächte.
»Da ist niemand«, versicherte Clara.
»Dann sag mir doch, wohin du in den Nächten schleichst. Sonst muss
ich einen Späher hinter dir herschicken.«
Betrübt blickte die Kammerfrau auf die weißen Flöckchen, die auf
Blankas Unterkleid rieselten, und hielt der Königin einen mit Lavendelduft
getränkten heißen Schwamm hin.
Ein Zittern durchfuhr Claras Leib. Ein solcher Späher würde wohl
kaum Königin Blanka Bericht erstatten, sondern eher die Gelegenheit nutzen,
ohne großen Aufwand seinem Seelenheil etwas Gutes zu tun. Ein Kreuzfahrergewand
war mühelos aufzutreiben, und eine Reiseroute brauchte nicht geplant zu werden.
Nicht einmal ein Pferd würde ein solcher Mann benötigen, um Ablass von all
seinen Sünden zu erhalten – wenn er sein Gelübde tat und innerhalb der vorgeschriebenen
vierzig Tage sämtliche Häretiker in der näheren Umgebung niederstreckte.
Wahrscheinlich würde er mit Auszeichnungen überhäuft werden, da er aufgedeckt
hatte, dass die Ketzer, die noch ausschließlich im Süden vermutet wurden, sogar
in Paris ihr frevlerisches Unwesen trieben. Und eine von ihnen zudem noch
engste Vertraute der Königin war!
Aber ich bin keine Ketzerin, dachte Clara, ich tue nichts anderes
als …
»Beten«, sagte sie laut. »Ich verspüre nachts oft den Wunsch, beten
zu gehen.« Das war zumindest ein Teil der Wahrheit.
»Und wozu verlässt du da die Cité?«, fragte Blanka. »Du kannst
doch auch in unserer Kirche beten, oder Gott in deinem Bett anrufen.«
Clara beschloss, noch ein weiteres Stückchen Wahrheit preiszugeben.
»Es zieht mich zur großen Kathedrale«, erklärte sie mit fester
Stimme und nickte der Magd flehendlich zu, ihr endlich die sprachhemmende Paste
aufs Gesicht zu schmieren. Dies entging Blanka, die in ihrem Spiegel
überprüfte, ob alle Reste der Erbsenmaske fortgewischt waren.
»Die Kathedrale ist Gott doch noch gar nicht geweiht!«, erklärte
sie, bevor sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte, damit die Kammerfrau mit
sanft kreisenden Fingern Pfirsichkernöl in ihre Haut einmassieren konnte.
»Aber der Herr hat dort bereits Wohnung genommen«, entgegnete Clara.
Das klang so überzeugend, dass sich die Königin einen Augenblick schweigend
ganz dem wohligen Gefühl der Gesichtsmassage hingab. Wie mutig von Clara
auszusprechen, was ihr kürzlich selbst in den Sinn gekommen war, als sie das
bereits sehr eindrucksvolle Bauwerk besichtigt hatte! Das langsam in den
Himmel wuchs, zwar von Menschenhand, die aber
zweifelsohne vom höchsten Wesen gelenkt wurde. Anders war dieses Wunder
an Dimensionen, perfekten Kreisen, steinernen Höhen und ehrfurchtseinflößenden
Skulpturen nicht zu erklären. Aber mit Beten und Bewunderung allein war die
Veränderung, die im vergangenen Monat mit Clara vorgegangen war, auch nicht zu
erklären. Blanka kannte ihren Schützling zu
gut, um sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben.
»Triffst du dich da mit deinem Liebhaber?«
Clara schüttelte langsam den Kopf und hob eine Hand zum Schwur.
Blanka musste einsehen, dass sie mit der Paste auf dem Gesicht jetzt nicht
sprechen konnte.
Felizian war nicht ihr Liebhaber. Jedenfalls noch nicht. Er war in
den vergangenen Wochen zu ihrem engsten Freund geworden, und sie vertraute ihm
mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt. Ihr Herz hatte sich ihm gegenüber
geöffnet, und während der oftmals stundenlangen Gänge zu den geheimen
Versammlungsorten der Katharer, in Kellern, Kirchen, Scheunen, Wohnungen oder
verlassenen Häusern, hatte sie ihm alles über sich erzählt.
Er war der erste Mensch, mit dem sie über Marmande sprechen konnte,
über die guten
Weitere Kostenlose Bücher