Die Kathedrale der Ketzerin
höfische Etikette abzulegen, erlaubte ihm
Freiheiten, von denen er zuvor nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Zum Beispiel
ein Widerwort: »Warum?«
»Weil ich es dir sage!«, fauchte Blanka und setzte dann mit
sanfterer Stimme hinzu: »Wir müssen sie vor sich selbst schützen. Von selbst
wird sie nicht wiederkommen.«
»Sie ist nicht unsere Gefangene.«
»Sie wird zu ihrem Haufen zurückkehren wollen.«
»Davon können wir sie nicht abhalten.«
»Aber sie wird unterwegs vor Entkräftung sterben – falls man sie
nicht vorher aufgreift.«
»Und im Kerker der Heiligen Inquisition vor Befragung und Folter
gemästet, damit die Flamme des Scheiterhaufens höher lodert.«
Blanka sah den Grafen von Champagne nachdenklich an. »Manchmal
glaube ich, Theobald, dass du einen spitzen Stein dort verwahrst, wo bei uns
anderen ein Herz schlägt«, sagte sie, »ein böses Werkzeug, das deine schönen
Verse aushöhlt und aus ihnen einen Wald voller toter Bäume macht.«
Theobald versteinerte. Alles durfte ihm die geliebte Königin
absprechen, alles, außer einem Herzen. Das ausschließlich für sie schlug und
bei ihren Worten gar heftig zu bluten begann.
»Herrin«, stammelte er und erhob sich mit zitternden Knien von der
Lagerstätte unter dem Zitronenbaum, der ihnen in einer Wolke berauschenden
Dufts tagelang Schatten gespendet hatte.
»Folge ihr mit einigen deiner Männer unauffällig«, ordnete Blanka
an. »Sobald sie zusammenbricht oder in irgendeine Gefahr gerät, greifst du ein
und bringst sie zurück. Aber halte dich bis dahin im Hintergrund. Sie ist
verschreckt wie ein waidwundes Tier und hat Angst vor uns; du musst behutsam
vorgehen.«
Theobald nickte und unterdrückte einen Seufzer. Die Rettung der
Schwester des Grafen von Toulouse wurde allmählich zu seiner Lebensaufgabe,
schien aber der einzige Weg ins Herz der Königin zu sein. Das demnächst für ihn
frei sein würde, welch eine wahrlich betörende Vorstellung!
Er rief zwei seiner Männer herbei, befahl den anderen, gut auf die vornehme französische Pilgerin achtzugeben,
und machte sich auf den Weg. Der, wenn es nach Clara ginge, sehr lang
werden würde, darüber gab er sich keinen Illusionen hin.
Und er wusste besser als die Königin, wie zäh Clara war.
Unglaublich, dass sie als Einzige dem Pfeilhagel seiner Männer entkommen war!
Er verdrängte die Erinnerung an die leeren Augen, aus denen sie ihn angeschaut
hatte, nachdem man sie unter dem hageren Mann hervorgezogen hatte, der auf sie
gefallen war. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte er geglaubt, Blanka
eine Leiche zurückbringen zu müssen. Doch ein winziger Lidschlag vertrieb seine
Ängste und milderte sein Entsetzen. Er hatte Clara lebend gefunden und musste
sie so schnell wie möglich nach Rom schaffen, um die Königin dort noch
rechtzeitig anzutreffen.
Er befahl seinen Männern, die toten Ketzer zu verbrennen, überließ
es ihnen, die Schwerverletzten bis zu einer Begegnung mit der katholischen
Geistlichkeit bei sich zu führen oder ebenfalls kurzerhand dem Feuer zu
überantworten und danach auf kürzestem Weg in die Champagne zurückzukehren. Er
suchte sich ein kleines Häuflein von zehn Recken aus und schwor sie auf eine
wichtige neue Aufgabe ein.
»Die Wege des Herrn sind wundersam«, erklärte er und legte aus, nach
Rom reisen zu müssen, um mit des Heiligen Vaters Hilfe die Champagne vor der
angedrohten Verwüstung durch den französischen König zu bewahren.
Ohne Erklärung band er eigenhändig einen toten Körper auf einem
Pferd fest und führte es neben sich her. Auch wenn Etienne diese elenden Ketzer
geschützt hatte, so war er, Theobald, seinem Freund zumindest eine christliche
Beerdigung schuldig. Während seine Männer am Hafen von Montpellier ein Schiff
für die Überfahrt nach Italien ausfindig machten, erwies er dort dem Sänger des
Südens die letzte Ehre und hinterließ eine ordentliche Summe, mit der Messen
für das Seelenheil des Unglücklichen gelesen werden sollten.
Auch auf dem Schiff zeigte Clara ihre Unverwüstlichkeit. Alle Ritter,
Theobald eingeschlossen, wurden seekrank; die stumme Frau nicht. Auch da hatte
sie nicht geredet und nie mit ihnen gemeinsam gegessen. Und doch hatte sie
später den langen Weg – erst nach Rom und dann nach Assisi – ohne jeglichen
Schwächeanfall zurückgelegt. Da ihr Schweigen auch Vorwürfe ausschloss, war er
durchaus dankbar für die stumme Begleitung. So brauchte er auch keine Erklärung
über das zerbrochene Siegel von
Weitere Kostenlose Bücher