Die Kathedrale der Ketzerin
Seele hüte und liebkose. Kehre in die Welt zurück. Sie
braucht die Liebe, die in Fülle in dir steckt. Gehe mit ihr großzügig um, auf
dass sie sich wundersam vermehre und du deinen eigenen Weg endlich erkennen
wirst. Folge deinem Herzen und achte auf die Zeichen!«
Bleib bei mir, wollte sie ihm zurufen, verlass mich nicht wieder!
Und erkläre mir, wie ich der Welt Liebe bringen soll, da uns doch Johannes
gelehrt hat, wir sollten nichts lieben, was in der Welt ist! Doch so wenig,
wie sie im Wachen sprechen wollte, so wenig konnte sie es im Traum.
Am nächsten Tag überreichte ihr Theobald Blankas Brief. Welch ein
Zeichen!
Wenn die Königin von Frankreich heimlich nach Rom reiste, um dort
den Papst zu einem Umdenken zu bewegen, dann würde sich vielleicht alles
ändern. Rettung für die Menschheit, für all die gefallenen Engel, schien nicht
mehr ausgeschlossen, wenn der Mann in Rom Prunk und weltliche Pracht ablegte,
seine Macht nutzte, um die Erdenbürger miteinander und mit Gott zu versöhnen,
und sich endlich wieder auf Christi wahre Nachfolge besann. Armut, Friede, und
ja, Liebe.
Das hatte auch Franz von Assisi gepredigt. Der zweifellos demnächst
heiliggesprochen werden würde – schon die in der Dunkelheit auffliegenden
Lerchen waren ja ein Wunder gewesen, das Hunderte bezeugen konnten.
Heiligkeit war üblicherweise jenen vorbehalten, die in der
himmlischen Sphäre weilten. Franz und Felizian könnten Heilige sein, den
katholischen Bischof von Rom hingegen kettete die körperliche Hülle noch an das
dunkle Erdendasein. Clara war sich ungewiss, ob er – wie die meisten Katharer
glaubten – vom Teufel mit Macht ausgestattet war oder den Auftrag Gottes im
günstigen Fall missverstanden, im ungünstigen missbraucht hatte.
Clara war in die Welt zurückgekehrt, doch in ihrem Kopf wirbelten
religiöse Lehren ihrer Kindheit am französischen Hof und Begegnungen mit
katholischen Geistlichen mit all den neuen Erkenntnissen, Erfahrungen und
Predigten der vergangenen Jahre im Kreis der Katharer durcheinander. Sie
verglich die Redlichkeit Felizians mit der Durchtriebenheit königlicher
Höflinge; die Mühsal, die er freiwillig auf sich genommen hatte, mit dem
gierigen Streben nach Besitz am französischen Hof, seine klaren Aussagen über
Leben und Tod mit den prunkvollen Ritualen, die beides in ihrer alten Welt
begleiteten und jeglichem Nachdenken darüber Raum und Luft nahm.
In Carcassonne hatte sie Felizians Mutter kennengelernt, eine
formidable Dame, die Blanka an Adel kaum nachstand. Und doch lebte diese Frau
mit nur einer getreuen Magd in einem schäbigen Verschlag an der Mauer der Cité.
Mit wehmütigem Lächeln hatte sie Clara willkommen geheißen und das Brot
gebrochen. Auf Claras Frage, warum sie nur ein Kind habe, hatte sie lächelnd
geantwortet, sie habe kein Kind: »Nur der Teufel besitzt Menschen.«
»Und das leider sehr gründlich«, hatte Felizian hinzugefügt.
Zu Claras Erstaunen hatten sich Mutter und Sohn nicht einmal bei der
Begrüßung geherzt. Dennoch spürte sie zwischen ihnen eine ähnliche
Verbundenheit, wie Blanka zu ihrem Sohn Ludwig pflegte, der von seiner Mutter
ständig umarmt und geküsst wurde. Ihr dämmerte, dass es möglicherweise keine
allgemein verbindlichen Regeln für den Umgang sich wahrhaft liebender Menschen
gab.
Wer den Geist des anderen liebte, musste dies nicht unbedingt durch
körperliche Nähe ausdrücken. Die Liebe zwischen ihr und Felizian war dafür ein
guter Beweis, so gern sie ihn auch berührt hätte. Die Liebe zwischen Blanka und
ihr war genauso unverbrüchlich und unkörperlich.
Clara wusste, dass die Königin sie fast so liebte wie eines ihrer
eigenen Kinder. Zu denen Theobald irgendwie auch gehörte, aber darüber mochte
Clara jetzt, auf ihrem einsamen Weg zurück nach Okzitanien, gar nicht
nachdenken. Theobalds Männer hatten den Tod der Menschen verschuldet, für die
Felizian verantwortlich gewesen war, und in den sie, Clara, sie alle
hineingetrieben hatte.
Sie blieb stehen, blickte nach oben in das Blätterdach eines Apfelbaums,
riss sich eine reife Frucht ab und biss wütend hinein. Es war unrecht, Theobald
alle Schuld zuzuschieben. Er hatte sie gerettet. Immer und immer wieder. In
Marmande hatte er ihretwegen die vierzigtägige Quarantänezeit abgebrochen und
somit den angeblichen Sündenablass nicht erhalten. Sein ganz persönliches
Seelenheil hatte er ihrem Wohlergehen untergeordnet. Das war ein sehr
katharischer Gedanke.
Wie entsetzt er
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