Die Kathedrale der Ketzerin
zwischen Himmel und Erde. Jedenfalls kommt da
die Liebe her«, fasste sich Antoine kurz und musterte voller Verzweiflung die
Frau, die ihm so vertraut hätte sein sollen, ihm aber aufgrund ihrer
unfasslichen Ähnlichkeit mit der Königin nun vollkommen entfremdet worden war.
»Lisette, ich will dir nur sagen …« Er brach ab und griff nach dem Kohlestift.
Schon wenige Tage nach dem Zusammenbruch der Brücke musste
König Ludwig eine weitere Niederlage hinnehmen. Eine Schar aus Avignon wagte
einen Ausfall, während die Franzosen vor der Stadt das Glück einer Jägertruppe
bejubelten und sich an den Kochfeuern über
das Fleisch hermachten. Hunger, Hitze und Freude über eine ordentliche
Mahlzeit ließen die Männer unvorsichtig werden. Ohne Rüstung und Waffen waren
viele Belagerer eine leichte Beute für die Bande aus Avignon, die ebenso
schnell wieder verschwand, wie sie das Mahl durcheinander- und Hunderte von
Kreuzrittern ums Leben gebracht hatte.
Mehr Disziplin war vonnöten. Ludwig ordnete augenblicklich an, die
Leichen in die Rhône zu werfen, um nicht noch weitere Seuchen ausbrechen zu
lassen. Er ließ einen gewaltigen Graben zwischen der Stadt und seinen Lagern
ausheben, um für die Zukunft gegen solche Ausfälle der Bürger von Avignon
gerüstet zu sein, erklärte, die Belagerung werde notfalls bis in die
Unendlichkeit andauern, und ließ das Gerücht verbreiten, neue Truppen
wohlgenährter Männer rückten heran.
Der Löwe brüllte, und Avignon erschrak: Eine Woche später gab die
Stadt überraschend auf.
Als Ludwig Ende September die nach drei Monaten Belagerung eroberte
Stadt Wilhelm von Oranien anvertraute und nach Carcassonne weiterzog, hatte
seine Gemahlin in Assisi ihr Ziel erreicht.
Doch den von ihr seit Jahren so verehrten Franz hatte
Blanka immer noch nicht zu Gesicht bekommen. Im Bischofshaus beschied man der
Pilgerin, der todkranke Franz bereite sich auf die Begegnung mit seinem
Schöpfer vor und könne niemanden empfangen. Die Königin von Frankreich beugte
das Haupt. Sie wollte den großen Mann nicht belästigen, der durch sein Beispiel
die mächtige Kirche in die Knie gezwungen hatte. Der genau das predigte, was
auch den verteufelten Katharern erstes Gebot war, dass nämlich der Sterbliche
nur durch Besitzlosigkeit und Achtung vor jeglicher Kreatur Jesu Nachfolge
antreten könne. Blanka konnte und mochte nicht darüber nachdenken, weshalb
Franz – zugegeben, nach langjährigen und zunächst oft vergeblichen Bemühungen –
den Segen der Kirche erhalten hatte, Claras Leute hingegen von ihr zu Tode
verdammt wurden.
Aber Claras Leute sprachen auch entsetzliche Dinge, entsann sie sich wieder ihrer furchtbaren Reise nach
Rom. Die Worte des Franz von Assisi hingegen waren von Feinheit,
Weisheit und Würde geprägt und so wohl gesetzt wie die Verse Theobalds. Und
außerdem: Sie war zwar die gesalbte Königin Frankreichs, aber in allen
Belangen des Glaubens hatte sie dem Papst zu folgen. Trotzdem war sie nun froh,
dass sie nicht des Gelübdes entbunden worden war, und nahm es als Zeichen
Gottes, nach ihren Möglichkeiten zu vermitteln.
Durch die weit geöffneten Fenster des Steinhauses vernahm sie den
Sonnengesang, jenes Gedicht, das Franz geschrieben hatte und dessen
französische Übersetzung sie auswendig kannte. Sie staunte, dass sie jedes Wort
verstand, wiewohl es hier auf Italienisch und nicht auf Lateinisch gesungen
wurde:
Gelobt seist du, mein Herr,
durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen
und Krankheit ertragen und Drangsal.
Selig jene, die solches ertragen in Frieden,
denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt werden.
»Er leidet entsetzlich«, flüsterte einer der Wachen vor
dem Haus der Pilgerin zu, die bereits seit drei Tagen vor dem Gebäude kniete.
»Aber er klagt nie. Gestern hat man ihm einen glühenden Eisenstab über Auge und
Schläfe gelegt, um das Geschwür zu entfernen. Er muss höllische Schmerzen
erlitten haben. Aber er hat weitergesungen.«
Blanka bekreuzigte sich.
»Willkommen, Bruder Tod«, hörte sie eine immer noch kraftvolle
Stimme durch das offene Fenster und erschauerte, als sie eine neue italienisch
gesungene Strophe so verstand, als wäre sie auf Kastilisch, Französisch oder
Latein vorgetragen:
Gelobt seist Du, mein Herr,
durch unseren Bruder, den leiblichen Tod,
kein lebender Mensch kann ihm entrinnen.
Weh’ denen, die sterben in schwerer Sünde.
Selig, die der Tod trifft
in Deinem heiligsten Willen,
denn der zweite Tod kann ihnen nichts
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