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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Blankas Brief abzugeben. Clara schenkte ihm
nicht einmal einen fragenden Blick, nachdem er ihr auf dem Schiff das Schreiben
aushändigte. Aber sie nickte, als er ihr das Reiseziel Rom nannte. Ihm genügte,
dass sie ihn widerstandslos begleitete.
    Damals war er Blanka von Kastilien, seinem einzigen wirklichen
Lebensziel, entgegengestrebt. Jetzt hatte er keinesfalls die Absicht, sich von
diesem Ziel durch eine tagelange Verfolgung allzu weit zu entfernen. Er heckte
einen schlichten Plan aus.
    Bei passender Gelegenheit würde er Clara mit einem leichten Schlag
niederstrecken, sich wieder einmal als ihr Retter feiern lassen, sie zur
Königin zurückbringen und zur Belohnung möglicherweise deren Fingerspitzen
küssen dürfen. Eine Aussicht, die sein soeben noch blutendes Herz wieder jubeln
ließ.
    Die Begegnung mit Franz von Assisi hatte Clara frische Kraft
verliehen und ihr die Richtung vorgegeben, die sie jetzt eingeschlagen hatte.
Sie musste zurück zu jenen, die gleich Vater Franz in Armut und Demut lebten.
Als sie ihn auf der hölzernen Trage gesehen hatte, war ihr, als läge dort
Felizian. Der Körper war kleiner und schmaler und der Kopf runder, aber die
Worte des Sterbenden schienen ihr von einem Engel eingegeben worden zu sein,
der während seiner Zeit in der Erdenhölle Felizian geheißen hatte. Dieser Engel
hatte ihr einen Gruß gesandt, und sie hatte ihn mit ihrem Amen erwidert.
    Clara dachte ununterbrochen an Felizian. Sie hatte seinen Tod und
den der anderen Katharer aus Carcassonne verschuldet, weil sie an den Schutz
jener Ritter geglaubt hatte, unter denen sie aufgewachsen war. Sie litt
entsetzlich bei dem Gedanken, dass keinem der Menschen aus Carcassonne das
Consolamentum hatte gespendet werden können. Auf alle wartete folglich ein
weiteres höllisches Erdenleben als Mensch oder als Tier. Und das war einzig
ihre Schuld. Sie erschauerte. Das Hühnerbein, das ihr Blanka gereicht hatte,
hätte ein Teil eines dieser Menschen sein können.
    Nur der Perfectus Felizian hatte mit seiner Geisttaufe am Tag zuvor
die Tür zum Himmelreich aufgestoßen und war dort eingetreten.
    Du hast mein Leben gerettet, doch ich bin mit dir gestorben. Dieser
Satz besetzte ihren Kopf auf der Reise von Montpellier nach Italien. Nichts
anderes konnte sie denken und folglich auch gar nichts sprechen.
    Auf der Haut spürte sie den Fahrtwind, in der Kehle das brackige
Wasser, das ihr gereicht wurde, unter den Füßen das Schwanken des Schiffes, ihr
Herz klopfte, sie sog Luft ein und stieß sie wieder aus, alles Zeichen für
einen lebenden Organismus, und doch war sie so tot wie ein morscher Baum. So
wie auf einem solchen Moos und Flechten wuchsen, so wuchsen ihr Haare und
Fingernägel, aber sie gehörten nicht mehr zu ihr. Als lebende Hülle, von der
sich die Seele gelöst hatte, wandelte sie auf Erden und zog übers Meer. Wo bist
du, meine Seele, ich suche dich, um diese Hülle endlich abstreifen zu können.
Sie sehnte jede Nacht herbei. Sobald sie der Schlaf umfing, spürte sie die Nähe
der Seele, fühlte, wie diese den Körper anhob und hinauftrug, dorthin, nach
Hause, wo alles leicht war. Doch mit dem Erwachen verschwand die Seele und
hinterließ Erdenschwere.
    Clara war Theobald dankbar, dass er sie unterwegs in Ruhe ließ, sie
nicht mit Fragen oder Ratschlägen belästigte oder zur Nahrungsaufnahme drängte.
Sie nahm durchaus etwas zu sich. Einmal kaute sie einen halben Tag auf einer
Pistazie, die sie vom Schiffsboden aufgelesen hatte, ein anderes Mal bewegte
sie stundenlang zwischen den Zähnen eine Olive, die ihr bei einem heftigen
Schlingern des Schiffs in den Schlund fuhr. Drei Tage dauerte es, bis sie aus
einem Granatapfel jeden Kern herausgepickt und im Mund hatte zergehen lassen.
Sie beobachtete die Möwen, die das Schiff begleiteten, und als ein Vogel eines
Morgens einen zu schwer gewordenen Kanten Brot auf die Planken fallen ließ, hob
sie ihn auf. Am Nachmittag hatte sie das Stück Brot auf die Hälfte heruntergenagt
und warf es den Möwen wieder zu.
    Vergeblich wartete sie darauf, dass ihr Körper endlich der
nächtlichen Seele folgen würde.
    Die Wende kam in der Nacht vor der Ankunft auf dem Festland. Statt
der sehnsuchtsvoll erwarteten Seele kam diesmal Felizian zu ihr.
    »Ich bin nicht tot, und du bist es auch nicht«, sagte er und
musterte sie liebevoll aus den gleichen dunklen Mandelaugen, die sie später an
Franz von Assisi wiedererkennen sollte. »Mein Weg ist nicht deiner, Clara, auch
wenn ich hier deine

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