Die Kathedrale der Ketzerin
der Herrin selbst
Bericht erstatten; schließlich hatte das dumme Ding mit seiner albernen
Schwärmerei für eine aussichtslose Sache sie alle erst in eine solch
verzweifelte Lage gebracht. Und ihm die unschätzbar kostbare Gelegenheit
verschafft, der Königin in der schweren Stunde, die ihr demnächst bevorstand,
zur Seite stehen zu können.
Verse formten sich in seinem Geist; ein Nachruf auf den Löwen, der
gebrüllt hatte, die Champagne zu verwüsten, diese Drohung aber nicht würde wahr
machen können. Denn der Herr der Champagne hatte das Raubtier schon so gut wie
erlegt.
6
Liebe
Sogar von deiner Liebe zu Clara, der Tochter des Edlen
Favorino Sciffi, weiß ich. Weil die Menschen feige sind, wähnen sie, du
liebtest einzig ihre Seele. Du jedoch liebtest zuallererst ihren Leib. Von ihm
nahmst du den Anlauf. Durch Kämpfe und Fallstricke der Versuchung und mit Gottes Hilfe erreichtest du ihre Seele. Und du liebtest
diese Seele, ohne jedoch ihren Leib zu verleugnen und ohne ihn je zu berühren.
Und die fleischliche Sehnsucht nach Clara blieb nicht nur kein Hemmnis für
dich, sondern half dir vielmehr, Gott zu erreichen. Denn diese selige Sehnsucht
enthüllte dir das große Geheimnis, auf welche Weise, durch welchen Kampf das
Fleisch zu Geist wird.
Nikos Kazantzakis »Mein Franz von Assisi«
Anfang Oktober 1226
V ergebens wartete Blanka darauf, von Clara »die lange
fürchterliche Geschichte« zu vernehmen. Clara sprach überhaupt nicht mehr. In
jener Woche, in der die beiden Frauen mit Theobald und vielen anderen Menschen
im Garten der kleinen Kapelle von Portiuncula der Erlösung des Franz von Assisi
harrten, war außer jenem Amen, an dem Blanka sie erkannt hatte, kein Wort über
ihre Lippen gekommen. Auch keine Speise, soweit Blanka das beurteilen konnte.
Clara schien nur Wasser zu sich zu nehmen.
Während die Menschen um sie herum weinten oder in Verzückung
gerieten, zeigte Clara nur ein einziges Mal den Hauch einer Regung. Als Franz
von Assisi bei Einbruch der Dämmerung seine Seele aushauchte und zu dieser
ungewöhnlichen Tageszeit ein riesiger Schwarm laut zwitschernder Lerchen
aufflog, folgte auch Claras Blick dem Zug der Vögel. Dabei hoben sich ihre
Mundwinkel um eine kaum merkliche Spur.
Aber jeder Versuch, mit ihr zu reden, scheiterte, als hätte sie die
Sprache verloren.
Am Tag nach der Beerdigung des heiligen Mannes platzte Blanka der
Kragen. Sie drückte Clara höchstselbst einen Hühnerschenkel in die Hand und
befahl ihr hineinzubeißen.
»Mach den Mund wenigstens zum Essen auf! Ich kann und werde nicht
zusehen, wie du vor meinen Augen verhungerst!«
Schweigend reichte Clara das Fleisch an den Troubadour weiter. Der
versuchte, Blanka eine Erklärung zu liefern: »Sie will ja sterben! Damit
sie in den Ketzerhimmel kommt. Endura nennen das die Häretiker, und sie
erwarten sich davon göttliche Belohnung, die armen Fehlgeleiteten.«
»Unfug!«, krächzte Clara, und dann brach es aus ihr heraus: »Ihr
würdet uns gern mästen, damit wir schön lange gefoltert werden und mit fettem
Bauch Öl ins Feuer eurer Scheiterhaufen geben können …« Hustend brach sie die
ihr mittlerweile ungewohnt gewordene Anstrengung des Sprechens ab.
»Clara!«, rief Blanka entgeistert. »Wir sind doch nicht deine
Feinde! Du bist hier nicht gefangen, wirst nicht gefoltert und schon gar
nicht auf einen Scheiterhaufen geschickt! Ich möchte dir helfen, darum bin
ich hier; ich bin deine Freundin, ich liebe dich!«
Ein winziger Funken stahl sich in Claras Augen, der aber bei Blankas
nächsten Worten augenblicklich erlosch: »Gütiger Gott im Himmel, was haben
diese verdammten Ketzer nur mit dir gemacht!«
»Du hast dein Gelübde vergessen!«
Clara spie der Königin die Worte fast ins Gesicht. Dann erhob sie
sich abrupt von dem Schaffell, auf dem sie gesessen hatte, ergriff ihren
Hanfbeutel und verließ ohne Blick oder Wort den Garten.
Theobald hob eine Augenbraue.
»Was für ein Gelübde?«, fragte er rasch.
»Das geht dich nichts an«, beschied ihn Blanka hart und setzte
hinzu: »Geh ihr nach!«
Die Königin in Pilgertracht und geheimer Mission gefiel Theobald
ausnehmend gut. Auch in einem Sack aus grobem Linnen hätte sie eine
atemberaubende Erscheinung abgegeben. Doch nicht der Anblick des von ihm so oft
besungenen edlen Antlitzes machte Theobald jetzt glücklicher denn je. Es war
die Nähe, die ihm Blanka in dieser fremdländischen Umgebung gestattete. Ihre
Anordnung, während dieser Reise die
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