Die Kathedrale der Ketzerin
entgegengeschickt wurde. Wider Erwarten hatte
sie die Rolle der Königin überlebt. Eine Rolle, die sie niemals wieder
einnehmen würde, das schwor sie sich. Nur wie würde sie sich künftig den beiden
mächtigen Königinnen verweigern können? Sie musste abtauchen. Aber wo sollte
sie hin?
Während sich die kleine Menschengruppe bei unerträglicher Schwüle
über einen steinigen Bergpfad schleppte, bedachte sie, wie nichtig alles
gewesen war. Nicht einmal das schöne Geld von Königin Ingeborg war ihr
geblieben. Er habe alles an arme Menschen verteilt, hatte ihr Mann gestanden.
Die Erinnerung an diese letzte Begegnung trieb ihr noch mehr Schweißperlen auf
die Stirn.
»Lasst uns Rast machen«, bat Lisette ihre Begleiter, als sie den
nicht sehr hohen Berg erklommen hatten. Sie deutete auf eine ausladende
Platane. Eilig wurde ihr dort eine Decke ausgebreitet. Der kleine Trupp, der so
lange einer vermeintlichen Königin gehorcht hatte, wäre nie auf den Gedanken
gekommen, sie wie Ihresgleichen zu behandeln; zu tief verwurzelt war in ihnen
das Bild der Königin, als dass sie deren Abbild etwas versagt hätten. Lisette
klammerte sich dankbar an diesen letzten Zipfel trügerischer Macht und ließ
sich einen Becher Wasser reichen. Sie schloss die Augen vor der Aussicht, der
Landschaft unter sich, die ihr genauso zerklüftet und unzugänglich erschien wie
ihre eigene Gedankenwelt.
Doch da tauchte vor ihrem inneren Auge ihr Mann auf. Wie er zum
letzten Mal in den Cité-Palast gekommen war, um die Skizze zu vervollständigen.
Das Echo seiner Worte hallte in ihrem Kopf nach.
»Dein Bildnis ist fertig«, sagte er, ohne sie zur Begrüßung zu
berühren. »Aber es wird nie die Figurengalerie schmücken. Ich bin gekommen, um
mich von dir zu verabschieden.«
Die Frau, die noch wenige Wochen zuvor beschlossen hatte, ihren Mann
nicht mehr zu mögen, war entgeistert.
»Wo gehst du denn hin?«, fragte sie mit der Stimme der
Verlassenen.
Er musterte die ihm entfremdete Frau, die in Schmuck und Tuch der
Königin vor ihm saß, und erwiderte sanft: »Dahin, wo du mir nicht zu folgen
vermagst, Lisette, so gern ich dich wieder in meiner Nähe hätte. Ich werde in
eine Welt des Lichts und der Wahrheit eintreten, frei von jeglicher Eitelkeit
und jeglichen Besitzes.«
»Frei jeglichen Besitzes?«
»Ich habe alles weggegeben, was wir besessen haben, Lisette, denn
ich brauche es nicht mehr und weiß dich hier gut versorgt.«
Das Ebenbild der Königin sprang von dem Stuhl auf, der ihm als Thron
gedient hatte, stürzte auf den Mann zu und rüttelte ihn wütend an den
Schultern.
»Du hast mein Geld weggeben!«
Antoine griff nach ihren Händen und hielt sie fest.
»Sieh mich an, Lisette«, bat er. »Und hör mir zu.«
Versteinert vom Gedanken, mit einem Mal wieder gänzlich verarmt und
somit jeglicher Unbill ausgeliefert zu sein, leistete der Königin Kopie keine
Gegenwehr. Sie nahm Antoines leise und bestimmt gesprochene Worte auf, doch als
wären sie in fremder Sprache gesagt worden, verstand sie ihren Sinn nicht.
Jetzt, auf dem Berg unter der Platane, in der schwülen Luft eines
herannahenden Gewittersturms, gelang es ihr nachträglich, einzelne Fetzen zu übersetzen.
Antoine hatte sich erst einer Gruppe seines Handwerks angeschlossen, die
geheime Botschaften in die große Kathedrale metzelte. Für Eingeweihte und für
die Nachwelt. Davon hatte er ihr in den vorangegangenen Sitzungen schon
erzählt. Und dass diese in Stein gehauenen geheimen Mitteilungen irgendetwas
mit dem Sinn des Lebens und dem Zusammenhang von Himmel und Erde zu tun hatten.
Noch größere Klarheit über das bereits Gelernte brachte ihm dann die Begegnung
mit Leuten ein, die sich gute Menschen nannten. Da hatte Lisette ihn
unterbochen.
»Was ist das für eine Klarheit, in der man alles weggibt, alles
verliert?«
»Nur wer nichts mehr zu verlieren hat, kann darauf hoffen, wirklich
frei zu sein«, hatte er ohne Umschweife geantwortet.
Aus dem finster verhangenen Himmel brach ein Blitz, der Lisette
augenblicklich in die Gegenwart zurückkatapultierte und ihr Angst machte.
»Herrin!«, rief einer ihrer Begleiter, der Gewohnheit folgend.
»Ihr bedürft des Schutzes!«
Sie erhob sich und ließ sich wortlos nach unten führen, wo ein
findiger Knecht eine Höhle entdeckt hatte, in der sie eng zusammenkauernd das
Ende des jetzt losbrechenden Sturms abwarten konnten.
Die Nachricht vom Tod des Königs erreichte die Führer des
Reisezugs am nächsten Morgen, doch
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