Die Kathedrale der Ketzerin
respektvollem Abstand hatte sich inzwischen ein großer Kreis um
die Königin gebildet. Hofdamen hielten Blankas Kinder fest, die angesichts der
verzweifelten Mutter entweder weglaufen oder auf sie zustürzen wollten. In
leises Getuschel mischten sich Entsetzensschreie, bis die Nachricht vom Tode
des Königs auch den letzten Pferdeknecht des Gefolges der Königin erreicht
hatte.
Blanka schrie immer noch. Der Kanzler wagte es nicht, sich zu
erheben, und blieb mit ausgestreckten Armen und zum Himmel gewandten Gesicht
vor ihr knien. Clara versuchte einen Arm um ihre Freundin zu legen, doch Blanka
stieß sie fort.
»Ludwig!«, heulte sie. »Lass mich nicht allein!«
Ihre heiser gewordene Stimme klang wie aus einer anderen Welt und
erschreckte die jüngsten Kinder derart, dass sie ebenfalls laut zu schreien
begannen.
Niemand rührte sich, keiner wusste, wie er sich zu verhalten hatte.
Ratlos blickten Blankas Gefolgsleute ihre aufgelöste Herrin und einander an.
Für eine solche Lage gab es keine Etikette.
Der zwölfjährige Ludwig wischte sich die Tränen vom Gesicht und trat
auf die Königin zu. In seinem zarten Gesicht spiegelte sich Entschlossenheit.
»Mutter«, sagte er laut mit seiner glockenhellen Stimme, »lass uns
zum Vater reiten.«
Blanka sah zu ihrem Sohn auf und verstummte augenblicklich. Ein
Hoffnungsschimmer funkelte in ihren irr und dunkel gewordenen Augen.
»Ja!«, keuchte sie. »Lasst uns zu ihm fahren. Er schläft nur. Vor
lauter Erschöpfung. Es war ein anstrengender Kreuzzug. Ludwig hat Großes
erreicht, und Gott schenkt ihm einen gnädigen Schlaf. Mein Kuss wird ihn erwecken.
Ihr werdet sehen«, rief sie in die Runde, »alles wird gut. Der König lebt.«
Sie wollte sich aufrichten, doch die Beine versagten ihr den Dienst.
»Tragt mich in den Wagen«, verlangte sie. »Und eilt euch. Euer König
soll nicht ungebührlich lange auf mich warten müssen.«
Nie zuvor hatte Theobald ein solches Entsetzen gepackt wie
beim Anblick der fünf leblosen Körper am Wegesrand. Er sprang von seinem Pferd,
stürzte mit seiner Fackel auf die Leichen zu und leuchtete jeder ins Gesicht.
»Ihr verfluchten Tölpel!«, rief er seinen Männern zu. Die
Erleichterung, unter den Toten keine Frau zu entdecken, wich schnell einem
unbestimmten Grauen. Was war mit der Königin geschehen? Lebte sie noch? War
sie verletzt? War sie entführt? Wohl kaum, denn in diesem Fall hätten die
Räuber zweifellos auch die beiden Pferde mitgenommen, die unversehrt unter den
Bäumen grasten. Hatte sich Blanka mit jenem Messer erfolgreich wehren können,
das zuvor noch seine Kehle geritzt hatte? Oh, wie würde er dieses Messer in Ehren
halten, wenn seine Schneide sie gerettet haben sollte! Dass es einen Kampf
gegeben haben musste, war auch im Fackelschein erkennbar, aber das Licht
reichte nicht aus, um weitere Spuren auszumachen.
»Wir bleiben hier, bis es hell wird«, entschied der Graf von
Champagne und forderte seine Männer auf, in großem Abstand der Leichen zu
lagern, damit wertvolle Spuren nicht verwischt werden würden. Sosehr es ihn
auch vorwärts drängte, so wenig Sinn hatte es, aufs Geratewohl durchs Dunkel zu
reiten.
Gerade bevor er sich fest in seinen Mantel gewickelt dem Schlummer
überlassen wollte, flog ihm ein Vers zu: Da du mich verstießest, das Leben du
ließest .
Abrupt setzte er sich auf und stieß einen heiseren Schrei aus. Nein,
Blanka, seine unsterbliche Göttin, konnte nicht tot sein, durfte nicht daran
gestorben sein, dass sie ihn, ihren treusten Freund, fortgeschickt hatte! Er
bekämpfte das nahezu unbezwingbare Bedürfnis, sich wieder auf sein Ross zu
schwingen und in großer Eile der Straße zu
folgen. Blanka ist überaus zäh und findig, sagte er sich immer wieder.
Sie lebt bestimmt noch. Zumal sich Clara bei ihr aufhält, der ein seltsam
waltender Gott in nahezu aussichtslosen Lagen so oft schon das Leben gelassen
hat – dank meines Einschreitens. Wie sehr es die Herrin jetzt doch reuen wird,
sich meines Schutzes entzogen zu haben! Und wie dankbar sie sein wird, wenn
ich sie morgen eingeholt haben werde! Sie wird mir die Hand zum Kusse
reichen, mich huldvoll anlächeln und mir süße Worte schenken. Nie wieder wird sie
mich auf so grausame Weise fortschicken, nie wieder wird sie an meiner Treue
zweifeln!
Kaum, dass er sich wieder hingelegt hatte, begann eine andere Frage
seinen Geist zu quälen. Weshalb reitet sie nach Süden? Erst jetzt entsann er
sich der unsinnigen Worte des Hünen in der
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