Die Kathedrale der Ketzerin
Nun,
ihre Worte waren ihm Befehl.
»Wir reiten in die Bretagne«, sagte er zu seinen Männern, nachdem
sie alle Banner eingesammelt hatten und zum Tor wieder hinausgeritten waren.
Herzog Peter von Braine, den man Mauclerc nannte, würde ihn mit
offenen Armen empfangen. Theobald begann, die Tage des künftigen Königs von
Frankreich zu zählen. Und damit auch die Blankas.
Die Königin verhielt sich, als wäre nichts geschehen. Sie
würdigte den Vorfall mit keinem Wort.
»Wie gut, dass wir uns heute nicht mit Schönheitsprozeduren abquälen
müssen«, rief sie Clara zu, als diese mit aschfahlem Gesicht die Kammer betrat,
in der sie zuvor über die drei Jahre zurückliegenden Ereignisse nachgedacht
hatte. »Mein Haar wird bedeckt sein, und keiner wird überirdische Schönheit von
der Mutter des neuen Königs erwarten. Morgen um diese Zeit wird mein Sohn
gekrönt sein – lass uns nur beten, dass der Goldschmied es bis dahin noch
schafft, die Krone auf das richtige Maß zu verkleinern!«
Clara hätte gern um etwas anderes gebetet, nickte aber nur.
Ein hartes Klopfen an der Tür kündigte den Kanzler an.
»Bleib«, sagte Blanka, als Clara aufsprang. »Er wird sicherlich gute
Nachrichten bringen.«
Er brachte schlechte. Mit gesenktem Kopf überreichte er Blanka
mehrere Briefe und murmelte: »Alles Absagen.«
»Absagen?«, fragte Blanka verwundert.
»Bedauerlicherweise werden ungebührlich viele Barone der morgigen
Krönung fernbleiben«, sagte er und tippte auf einen Brief. »Diesen solltet Ihr
sogleich lesen.«
Blanka trat ans Fenster und blickte auf das gelbliche Blatt. Sie
wurde blass, und ihre Augen verengten sich.
»Trauer um den Vater und Kummer über die Herrschaft verbieten mir
die Reise!«, las sie laut vor. Sie warf den Brief zu Boden. »Kummer über die
Herrschaft!«, wiederholte sie entsetzt. »Das ist eine offene
Kriegserklärung! Dieser elende Mauclerc droht mir und meinem Sohn!«
Der Kanzler nickte.
»So sehe ich das auch, Herrin. Die anderen Briefe sind in ähnlichem
Ton gehalten. Ihr bedürft der Unterstützung eines jeden Getreuen, denn wie es
scheint, kommen sehr schwere Zeiten auf Euch, Euren Sohn und uns alle zu.
Bedenkt aber, Herrin, dass Euch noch viele Grafen treu ergeben sind. Die
solltet ihr um Euch sammeln.«
Blanka winkte ihn fort: »Geht und zählt sie!«
Als sich die Tür hinter dem Kämmerer schloss, sah sie ihre Freundin
mit einer Verzagtheit an, die Clara noch nie an ihr erlebt hatte.
»Mein Gott«, flüsterte Blanka, »ich glaube, ich habe heute einen
gewaltigen Fehler begangen!«
9
Gier
Wie viele gibt’s,
die nur nach eitler Größe dürsten!
Der Bürgersmann
tät’s gern dem hohen Adel gleich.
Das kleinste
Fürstentum spielt Königreich,
und jedes Gräflein
spielt den Fürsten.
Jean de la Fontaine
29. November 1226
D ie Tränen, die Blanka bei dieser Krönung in die Augen
stiegen, waren auf keinen Goldstaub zurückzuführen, sondern quollen aus der
Tiefe ihres Herzens hervor. Diese ersten Tränen, die sie seit ihrer Rückkehr
aus dem Totenreich vergoss, galten nicht dem Gemahl, sondern dem Sohn.
Wie zart er ist, wie zerbrechlich, dachte sie, als der zwölfjährige
Ludwig die Estrade vor dem Chor betrat und mit heller Stimme seinen Eid sprach.
Wie kann ich ihn vor all dem Bösen schützen, dem er ausgesetzt sein
wird, wie kann ich ihn anleiten, auf dass er so ein großer König werde wie sein
Vater, mein geliebter Löwe? Sie blickte auf die Krone, die neben dem
Lilienzepter auf dem Altar lag. Das Juwel war zwar rechtzeitig verkleinert
worden, würde aber immer noch viel zu mächtig auf dem blonden Köpfchen wirken.
Damit dies nicht so in die Augen steche, hatte Blanka angeordnet, für den Umzug
nach der Zeremonie ihrem Sohn eine zierlichere Krone reichen zu lassen.
Die Königin schluchzte laut auf, als sich Ludwig der Länge nach vor
dem Altar auf den Boden warf und über ihm die Litanei der Heiligen gesungen
wurde.
So
möge Gott, der ans Kreuz geschlagen wurde, Euch behüten, gnädiger König, und
alle Eure Freunde, und Euch, Herr, Tugend und Macht verleihen, um Eure
Herrschaft zu behalten …
Amen, flüsterte Blanka, Amen! Er muss die Herrschaft behalten. Er
muss das Land wieder einen. Dieser Aufgabe weihe ich fortan mein Leben.
Das Tedeum erklang.
Tränen zerfurchten das Bleiweiß auf ihren Wangen, als ihrem Sohn die
Sporen angelegt wurden und er das blanke Schwert in die Hand nahm. Wie
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