Die Kathedrale des Meeres
Sündenböcken. Wollen wir nun beten?«
»Betet Ihr für mich, Pater.«
Arnau verließ Santa María. Auf dem Vorplatz war er plötzlich von einer Gruppe von etwa zwanzig Flagellanten umringt. »Übe Reue!«, riefen sie, während sie unablässig ihre Rücken geißelten. »Das Ende der Welt ist gekommen!«, schrien andere, ihm die Worte ins Gesicht speiend. Arnau sah, wie ihnen das Blut über die wunden Rücken rann und an ihren nackten Beinen herabsickerte. Um die Hüften trugen sie Bußgürtel. Er betrachtete ihre Gesichter und die weit aufgerissenen Augen, die ihn anstarrten. Er lief in Richtung Calle de Monteada davon, bis die Schreie verhallten. Hier war es still, aber … die Türen! Nur an wenigen der großen Portale zu den Stadtpalästen in der Calle Monteada war das weiße Kreuz zu sehen, das wie ein Kainsmal die meisten Türen der Stadt zeichnete. Arnau stand vor dem Palast der Puigs. Auch dort befand sich kein weißes Kreuz. Die Fenster waren verschlossen und in dem Gebäude regte sich nichts. Er wünschte, die Pest möge sie dort einholen, wohin sie sich geflüchtet hatten, damit sie genauso litten, wie Maria gelitten hatte. Arnau suchte noch schneller das Weite als vor den Flagellanten.
Als er die Stelle erreichte, wo die Calle Monteada auf die Calle Carders stieß, begegnete Arnau erneut einer aufgeregten Menschenmenge, doch diese war mit Stöcken, Schwertern und Armbrüsten bewaffnet. »Die Leute sind alle verrückt geworden«, dachte Arnau, während er sich von der Menge entfernte. Die Predigten in allen Kirchen der Stadt hatten wenig genützt. Die Bulle Clemens' VI. hatte die Gemüter im Volk nicht besänftigt, das seinen Zorn an jemandem auslassen wollte. »Zum Judenviertel!«, hörte er sie brüllen. »Ketzer! Mörder! Büßen sollt ihr!« Auch die Flagellanten waren dort und wiegelten die Umstehenden auf, während sie sich geißelten, bis das Blut spritzte.
Arnau folgte der Horde gemeinsam mit einer schweigenden Menge, in der er den einen oder anderen Pestkranken sah. Ganz Barcelona strömte zum Judenviertel und umstellte das von Mauern umgebene Barrio. Einige rotteten sich neben dem Bischofspalast zusammen, andere im Westen neben der alten römischen Stadtmauer. Wieder andere versammelten sich in der Calle del Bisbe, die im Osten an das Judenviertel grenzte, die restlichen, darunter auch die Gruppe, der Arnau folgte, trafen sich im Süden in der Calle de la Boquería und vor dem Castell Nou, wo sich der Eingang zum Judenviertel befand. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Das Volk schrie nach Rache, doch für den Augenblick beschränkte es sich darauf, vor den Toren zu brüllen und mit seinen Stöcken und Armbrüsten zu fuchteln.
Arnau gelang es, einen Platz auf der überfüllten Kirchentreppe von Sant Jaume zu ergattern, aus der man ihn und Joanet eines lange zurückliegenden Tages hinausgeworfen hatte, als er auf der Suche nach dieser Jungfrau gewesen war, die er Mutter nennen konnte. Die Kirche Sant Jaume lag genau gegenüber der südlichen Mauer des Judenviertels, und von dort konnte Arnau über die Köpfe der Leute hinweg sehen, was geschah. Ein Kommando königlicher Soldaten unter dem Befehl des Stadtrichters stand bereit, um das Judenviertel zu schützen. Bevor die Menge angriff, näherte sich eine Abordnung von Bürgern der Mauer, um vor dem halb geöffneten Tor des Judenviertels mit dem Stadtrichter darüber zu verhandeln, dass er die Truppen abziehen solle. Die Flagellanten schrien und sprangen um die Gruppe herum, und der Mob stieß weiterhin Drohungen gegen die Juden aus, von denen nichts zu sehen war.
»Sie werden nicht abziehen«, hörte Arnau eine Frau sagen.
»Die Juden sind Eigentum des Königs, sie hängen einzig und allein vom König ab«, pflichtete ein anderer bei. »Wenn die Juden sterben, verliert der König alle Steuern, die er von ihnen einholt …«
»Und alle Darlehen, die er bei diesen Wucherern aufnimmt.«
»Und nicht nur das«, mischte sich ein Dritter ein. »Wenn das Judenviertel geschleift wird, verliert der König auch die Möbel, die die Juden ihm und seinem Hofstaat überlassen, wenn er nach Barcelona kommt.«
»Da werden die Adligen halt auf dem Boden schlafen müssen«, war irgendwo unter lautem Gelächter zu vernehmen.
Arnau konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Der Stadtrichter wird die Interessen des Königs verteidigen«, sagte die Frau.
Und so war es. Der Stadtrichter gab nicht nach. Als die Unterredung beendet war, zog er sich
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