Die Kathedrale des Meeres
sie beruhigte.
»Es sind nur Tote«, herrschte er sie an, »und nicht einmal Pesttote. Was ist euch lieber: Hier unten bei den Toten zu sein und zu leben, oder dort draußen, wo man euch umbringt?« Das Weinen verstummte. »Ich werde jetzt gehen, um eine Kerze, Wasser und etwas zu essen zu besorgen. Einverstanden? Einverstanden?«, wiederholte er noch einmal, als sie schwiegen.
»Einverstanden«, hörte er das Mädchen antworten.
»Damit eines klar ist: Ich habe mein Leben für euch aufs Spiel gesetzt und setze es auch jetzt aufs Spiel, falls jemand entdeckt, dass ich drei jüdische Kinder unter der Kirche Santa María versteckt habe. Ich bin nicht bereit, weiterhin mein Leben zu riskieren, wenn ihr bei meiner Rückkehr verschwunden seid. Also, was sagt ihr? Wartet ihr hier auf mich oder wollt ihr wieder hinaus auf die Straße?«
»Wir werden warten«, antwortete das Mädchen entschlossen.
Auf Arnau wartete ein leeres Haus. Er wusch sich und versuchte, sein Bein zu versorgen. Nachdem er die Wunde verbunden hatte, füllte er seinen alten Wasserschlauch, nahm eine Lampe und Öl, um sie zu füllen, einen Laib hartes Brot sowie Dörrfleisch und humpelte nach Santa María zurück.
Die Kinder hatten sich nicht vom Ende des Tunnels wegbewegt, wo er sie zurückgelassen hatte. Arnau entzündete die Lampe und sah drei verschreckte Rehlein, die sein Lächeln nicht erwiderten, mit dem er sie zu beruhigen versuchte. Das Mädchen umarmte die beiden anderen. Die drei hatten dunkle Haut und langes, gepflegtes Haar. Sie sahen gesund aus, mit schneeweißen Zähnen, und sie waren hübsch, insbesondere das Mädchen.
»Seid ihr Geschwister?«, wollte Arnau wissen.
»Wir beide sind Geschwister«, antwortete erneut das Mädchen und deutete auf den Kleinsten. »Er ist ein Nachbarsjunge.«
»Nun, ich finde, nach allem, was geschehen ist und was noch vor uns liegt, sollten wir uns vorstellen. Mein Name ist Arnau.«
Das Mädchen übernahm das Reden: Sie heiße Raquel, ihr Bruder Jucef und ihr Nachbar Saúl. Im Schein der Lampe stellte Arnau ihnen weitere Fragen, während die Kinder sich scheu in der Begräbnisstätte umblickten. Sie waren dreizehn, elf und sechs Jahre alt. Sie waren in Barcelona geboren und lebten mit ihren Eltern im Judenviertel, wohin sie eben zurückgehen wollten, als sie von der aufgebrachten Menge angegriffen wurden, vor der Arnau sie gerettet hatte. Der Sklave, den sie immer Sahat gerufen hatten, gehörte den Eltern von Raquel und Jucef, und wenn er gesagt hatte, dass er zum Strand kam, würde er das auch ganz gewiss tun. Er hatte sie noch nie belogen.
»Also gut«, sagte Arnau nach diesen Erklärungen, »ich denke, es lohnt sich, uns diesen Ort genauer anzusehen. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal hier war – ich muss ungefähr in eurem Alter gewesen sein. Obwohl ich nicht glaube, dass sich hier seither jemand von der Stelle gerührt hat.«
Nur er selbst lachte. Auf Knien rutschte er bis zur Mitte der Höhle und hielt die Lampe hoch. Die Kinder blieben, wo sie waren, und betrachteten verängstigt die offenen Gräber und die Skelette. »Ein besseres Versteck ist mir nicht eingefallen«, entschuldigte er sich, als er ihre entsetzten Gesichter sah. »Hier wird euch bestimmt niemand finden, bis sich die Lage wieder beruhigt hat …«
»Und was, wenn sie unsere Eltern umbringen?«, unterbrach ihn Raquel.
»Denk nicht einmal daran. Bestimmt geschieht ihnen nichts. Seht mal hier. Hier ist eine Stelle ohne Gräber, groß genug für uns alle. Los, kommt schon!«
Er musste sie noch mehrmals ermuntern, bis sie schließlich zu ihm kamen und sie sich zu viert in eine kleine Nische zwängten, wo sie auf dem Boden sitzen konnten, ohne ein Grab zu berühren. Die alte römische Begräbnisstätte war noch im selben Zustand wie beim letzten Mal, als Arnau sie gesehen hatte, mit ihren merkwürdigen Ziegelgräbern in Form länglicher Pyramiden und den großen Amphoren mit den Toten darin. Arnau stellte die Lampe auf einer von ihnen ab und bot den Kindern Wasser, Brot und Dörrfleisch an. Die drei tranken gierig, doch vom Essen nahmen sie nur das Brot.
»Es ist nicht koscher«, entschuldigte sich Raquel mit Blick auf das Dörrfleisch.
»Koscher?«
Raquel erklärte ihm, was koscher bedeutete und welche Regeln die Mitglieder der jüdischen Gemeinde befolgen mussten, wenn sie Fleisch essen wollten. So plauderten sie, bis die beiden Jungen erschöpft ihre Köpfe in den Schoß des Mädchens legten. Flüsternd, um sie
Weitere Kostenlose Bücher