Die Kathedrale des Meeres
Gesichtsausdruck ihres Bruders nicht.
»Du etwa auch …?«
Bernat nickte.
»Aber … du hattest so ein wunderbares Stück Land!«
Guiamona konnte die Tränen nicht zurückhalten, während Bernat seine Geschichte erzählte. Als er ihr von dem Jungen in der Schmiede berichtete, stand sie auf und kniete neben dem Stuhl nieder, auf dem ihr Bruder saß.
»Aber das erzählst du niemandem«, riet sie ihm. Dann hörte sie ihm weiter zu, den Kopf an sein Bein angeschmiegt.
»Mach dir keine Sorgen«, schluchzte sie, als Bernat mit seiner Erzählung zu Ende war. »Wir werden dir helfen.«
»Aber Schwester«, sagte Bernat, während er ihr über den Kopf strich, »wie wollt ihr mir helfen, wenn Grau nicht einmal seinen eigenen Brüdern geholfen hat?«
»Weil du anders bist!«, flüsterte Guiamona schniefend.
Es war bereits dunkel, als ihr Mann nach Hause kam. Der kleine, schmale Grau kam aufgeregt schimpfend die Treppe hinauf. Guiamona hatte auf ihn gewartet und hörte ihn kommen. Jaume hatte Grau über die neue Situation informiert: »Euer Schwager schläft in der Scheune bei den Lehrlingen und das Kind … bei Euren Kindern.«
Grau ging wütend auf seine Frau los, als sie ihm entgegentrat.
»Wie konntest du es wagen?«, schrie er sie an, nachdem er sich ihre ersten Erklärungen angehört hatte. »Er ist ein Leibeigener auf der Flucht! Weißt du, was es bedeuten würde, wenn man einen Flüchtigen in meinem Haus fände? Mein Ruin! Es wäre mein Ruin!«
Guiamona hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, während er vor ihr auf und ab lief und mit den Händen fuchtelte. Sie war einen Kopf größer als er.
»Du bist verrückt! Ich habe meine eigenen Brüder auf Schiffen in die Fremde geschickt. Ich habe den Frauen meiner Familie Mitgift gegeben, damit sie Männer von anderswo heiraten. Und das alles, damit niemand etwas dieser Familie anhaben kann. Und jetzt kommst du … Warum sollte ich bei deinem Bruder anders handeln?«
»Weil mein Bruder anders ist!«, schrie sie zu seiner Überraschung.
Grau zögerte.
»Was … was willst du damit sagen?«
»Das weißt du ganz genau. Ich glaube nicht, dass ich dich daran erinnern muss.«
Grau senkte den Blick.
»Gerade heute«, murmelte er, »habe ich mich mit einem der fünf Ratsherren der Stadt getroffen, damit man mich als Zunftmeister in den Rat der Hundert wählt. Es sieht so aus, als hätte ich drei der fünf Ratsherren auf meiner Seite. Kannst du dir vorstellen, was meine Gegner sagen werden, wenn sie erfahren, dass ich einem flüchtigen Leibeigenen Unterschlupf gewährt habe?«
Guiamona sagte sanft zu ihrem Mann: »Wir verdanken ihm alles.«
»Ich bin nur ein Handwerker, Guiamona. Reich, aber ein Handwerker. Die Adligen verachten mich, und die Händler hassen mich, auch wenn sie mit mir zusammenarbeiten. Wenn sie herausbekommen, dass wir einen Flüchtigen aufgenommen haben … Weißt du, was die adligen Grundherren dazu sagen würden?«
»Wir verdanken ihm alles«, wiederholte Guiamona.
»Gut, dann geben wir ihm Geld und er soll verschwinden.«
»Was er braucht, ist die Freiheit. Ein Jahr und einen Tag.«
Grau wanderte erneut nervös im Zimmer auf und ab. Dann schlug er die Hände vors Gesicht.
»Wir können nicht«, sagte er. »Wir können nicht, Guiamona.« Er sah sie an. »Stell dir vor …«
»Stell dir vor! Stell dir vor!«, fiel sie ihm ins Wort und erhob erneut die Stimme. »Stell dir vor, was geschieht, wenn wir ihn wegschicken, die Häscher Llorenç de Belleras oder deine eigenen Feinde ihn festnehmen und erfahren, dass du alles ihm verdankst, einem flüchtigen Leibeigenen, der einer Mitgift zustimmte, die mir nicht zustand.«
»Willst du mir drohen?«
»Nein, Grau, nein. Aber es steht geschrieben. Alles steht geschrieben. Wenn du es nicht aus Dankbarkeit tun willst, dann tu es für dich selbst. Es ist besser, wenn du ihn unter Kontrolle hast. Bernat wird Barcelona nicht verlassen. Alles, was er will, ist die Freiheit. Wenn du ihn nicht aufnimmst, laufen ein flüchtiger Bauer und ein Kind durch Barcelona, beide mit demselben Muttermal am rechten Auge wie ich, hilflos deinen Gegnern ausgeliefert, die du so fürchtest.«
Grau Puig sah seine Frau eindringlich an. Er wollte etwas erwidern, winkte dann aber ab. Er verließ den Raum, und Guiamona hörte ihn die Treppe zum Schlafzimmer hinaufgehen.
5
»Dein Sohn wird im großen Haus bleiben. Doña Guiamona wird sich um ihn kümmern. Wenn er alt genug ist, kann er als Lehrling in der Werkstatt
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