Die Katze
Charley betrachtete ihre wunderschönen Gesichter und ging im Kopf stumm die Veränderungen durch, die die vergangenen zwölf Monate gebracht hatten - mit den endlich nachgewachsenen beiden Schneidezähnen war Frannys Lächeln nicht mehr so zahnlos schüchtern wie auf dem Foto, und ihr Haar war mittlerweile dunkler und länger geworden, aber das Funkeln in ihren grünen Augen war noch immer dasselbe. Sie hatte einen sommersprossigen Arm um die Schulter ihres kleinen Bruders gelegt, scheinbar liebevoll, obwohl sie wahrscheinlich nur versucht hatte, ihn festzuhalten. James war ein wahres Energiebündel, unfähig, auch nur einen Moment still zu stehen. Und
auch wenn sein Gesicht heute nicht mehr so pausbäckig und er etliche Zentimeter gewachsen war, hatte er nichts von dieser Energie verloren. Mit seiner weißblonden Mähne und seinen dunkelblauen Augen sah er vielleicht aus wie ein kleiner Cherubin, dachte sie und fuhr mit dem Finger über das Grübchen in seinem Kinn, aber er war ein veritables kleines Teufelchen. Sie vergötterte ihn. Wenn sie von ihm zu seiner Schwester blickte, konnte Charley kaum glauben, dass sie es geschafft hatte, etwas so Perfektes hervorzubringen. Sie liebte ihre Kinder über alles. Warum hatte sie niemand darauf vorbereitet? Warum hatte ihr nie jemand erzählt, dass man so sehr lieben konnte?
Wahrscheinlich weil niemand da gewesen war, der es ihr hätte erzählen können.
Charley ließ sich auf ihren Stuhl sinken, griff in die oberste Schreibtischschublade und zog ein Exemplar von Denk an die Liebe heraus, dem letzten Roman ihrer Schwester Anne, den jene ihr vor zwei Wochen zugeschickt hatte, ohne dass sie bisher einen Blick hineingeworfen hatte. Wenn nicht schon der Umschlag gereicht hätte, um sie abzuschrecken - das Bild einer jungen Braut mit tränenumflortem Blick, die Augen von ihrem Schleier nur halb verdeckt -, hätte es die Widmung garantiert getan. Für meinen wundervollen Vater Robert Webb . Was sollte das? Charley dachte an den kalten, verbitterten Mann, in dessen Haus sie aufgewachsen war, ein Haus voller wütendem Schweigen und dem Widerhall strenger Tadel. Hatte ihr Vater je ein freundliches Wort gesagt? Zu irgendjemandem?
Charley schlug das Titelblatt auf. Für Charlotte , hatte ihre Schwester in kunstvollen Schnörkeln darunter geschrieben, an deren Perfektion sie wahrscheinlich Wochen gefeilt hatte. Mit den besten Wünschen, Anne . Als ob sie nicht mehr als Fremde wären. Und vielleicht waren sie ja genau das.
Sie schlug das erste Kapitel auf und las den Anfang: Als Tiffany Lang Blake Castle zum ersten Mal sah, wusste sie, dass sich ihr Leben für immer verändert hatte .
»Oje.«
Er war nicht nur der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte, obwohl sich auch das nicht bestreiten ließ. Es war nicht das Blau seiner Augen und nicht einmal die Art, wie er direkt durch sie hindurchzublicken schien - so als könnte er auf den Grund ihrer Seele starren und jeden ihrer geheimsten Gedanken lesen. Noch war es die anmaßende Nonchalance, mit der er den Raum beherrschte, die Daumen provokant in die Taschen seiner engen Jeans gehakt, die vollen Lippen zu einer stummen Einladung geschürzt, die sie herausforderte, näher zu kommen. Auf eigene Gefahr, sagte er wortlos.
»Gütiger Gott.«
»Was lesen Sie denn da?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Charley klappte das Buch eilig zu. »Kann ich irgendetwas für Sie tun, Mitch?«, fragte sie zurück, ohne sich umzudrehen.
»Ich hab gehört, dass Sie eine Morddrohung bekommen haben.«
Charley dreht sich auf ihrem Stuhl um. Mitch Johnson war ein Mann mittleren Alters mit Bierbauch und Halbglatze, der sich aus für Charley unerfindlichen Gründen für einen unwiderstehlichen Frauenheld hielt. Er lehnte sich in einer einstudierten Pose, die er vermutlich für sexy hielt, an die Trennwand ihrer Zelle, die Stirn gerunzelt, die Miene bemüht ernsthaft.
»Damit hätten Sie zu mir kommen sollen«, ermahnte er sie. »Ich bin leitender Redakteur. Ihr direkter Vorgesetzter. Sie sollten nicht mit jedem kleinen Problemchen zu Michael rennen.«
»Ich habe es nicht für ein kleines Problemchen gehalten.«
»Trotzdem hätten Sie zuerst zu mir kommen sollen«, sagte Mitch.
»Tut mir leid. Ich hab nicht nachgedacht.«
»Dann denken Sie nächstes Mal nach«, sagte er.
»Ich hoffe, es wird kein nächstes Mal geben.«
»Dann sollten Sie vielleicht für Ihre nächste Kolumne ein weniger kontroverses Thema wählen«, sagte er, und sein
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