Die Katze
dachte Charley jetzt, lehnte sich auf ihrem braunen Lederstuhl zurück und starrte an der Trennwand
vorbei, die ihren Arbeitsplatz von Dutzenden ähnlicher Klausen abteilte, die den Kern der Redaktion bildeten. Der große Raum war in drei Hauptbereiche unterteilt. Das größte Areal wurde von den Journalisten der Nachrichtenredaktion belegt, die täglich Artikel veröffentlichten; ein zweiter Bereich war für die Kolumnisten reserviert, die wie sie selbst wöchentlich oder zu speziellen Themen schrieben; ein dritter war dem Sekretariat und der Dokumentation vorbehalten. Menschen arbeiteten stundenlang an ihren Computern, bellten in ihre Headsets oder balancierten altmodische schwarze Hörer zwischen Ohr und Schultern. Es gab Storys aufzudecken und weiterzuverfolgen, Deadlines einzuhalten, die Ausrichtung einer Geschichte zu besprechen und Zitate zu autorisieren. Irgendjemand rannte ständig rein oder raus, bat um Rat, eine Meinung oder Hilfe.
Niemand bat Charley je um irgendwas.
Sie glauben, mich zu kennen, dachte Charley noch einmal. Sie glauben, weil ich über Passion-Partys und Intimwaxing schreibe, sei ich ein seichtes Dummchen. Im Grunde sei alles über mich gesagt.
Dabei wussten sie gar nichts.
WARUM HALTEN SIE NICHT EINFACH DIE KLAPPE UND VERSCHWINDEN?!!!!
Von: Charley Webb
An: Wütende Leserin
Betreff: Eine durchdachte Antwort
Datum: Montag, 22. Januar 2007, 10:37:06 EST
Verehrte wütende Leserin, Sie sind gemein.
Mit freundlichen Grüßen, Charley Webb.
Diesmal klickte Charley direkt auf SENDEN und wartete, bis ihr Computer bestätigte, dass er die Mail abgeschickt hatte. »Das hätte ich wahrscheinlich besser gelassen«, murmelte sie. Es war nie klug, einen Leser vorsätzlich gegen sich aufzubringen. Dort draußen gab es jede Menge Pulverfässer, die nur auf einen Vorwand zur Explosion warteten. Sie hätte die Frau einfach ignorieren sollen, dachte Charley, als ihr Telefon zu klingeln begann. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich mit »Charley Webb«.
»Sie nichtsnutzige Schlampe«, knurrte eine Männerstimme. »Irgendjemand sollte Sie ausnehmen wie einen Fisch.«
»Mutter, bist du das?«, fragte Charley und biss sich auf die Zunge. Warum hatte sie nicht auf die Anruferkennung geschaut? Und was war mit ihrem eben gefassten Vorsatz, nicht ständig alle Menschen gegen sich aufzubringen? Sie hätte einfach auflegen sollte, tadelte sie sich, doch der Anrufer kam ihr zuvor. Das Telefon begann sofort erneut zu klingen, und wieder nahm sie ab, ohne nachzusehen. »Mutter?«, fragte sie, weil sie einfach nicht widerstehen konnte.
»Woher wusstest du das?«, erwiderte ihre Mutter.
Charley musste lächeln, als sie sich den verwirrten Ausdruck auf dem langen, eckigen Gesicht ihrer Mutter vorstellte. Elizabeth Webb war fünfundfünfzig Jahre alt mit schulterlangen pechschwarzen Haaren, die die jenseitige Blässe ihrer Haut noch betonten. Auf nackten Füßen maß sie 1,80 Meter, meist trug sie lange wehende Röcke, die ihre Beine kürzer, und tief geschnittene Blusen, die ihren Busen größer wirken ließen. Sie war eine klassische Schönheit, heute noch genauso wie damals, als sie in Charleys Alter und bereits Mutter von vier kleinen Kinder gewesen war. An jene Zeit hatte Charley jedoch nur wenig Erinnerungen und noch weniger Fotos, weil ihre Mutter aus ihrem Leben verschwunden war, als sie selbst gerade acht Jahre alt geworden war.
Vor zwei Jahren war Elizabeth Webb dann plötzlich wieder
aufgetaucht, begierig darauf, den vor gut zwanzig Jahren abgebrochenen Kontakt mit ihren Kindern wieder aufzunehmen. Charleys Schwestern hatten beschlossen, loyal gegenüber ihrem Vater zu bleiben, und sich geweigert, der Frau zu vergeben, die nicht mit einem anderen Mann, was vielleicht noch verzeihlich gewesen wäre, sondern mit einer anderen Frau nach Australien durchgebrannt war, was definitiv unentschuldbar war. Nur Charley war neugierig genug gewesen - oder trotzig, wie ihr Vater zweifelsohne behaupten würde -, einem Wiedersehen zuzustimmen. Ihr Bruder mied natürlich weiterhin jeden Kontakt zu beiden Elternteilen.
»Ich wollte dir bloß sagen, dass ich deine Kolumne gestern mit Vergnügen gelesen habe«, sagte ihre Mutter mit einem halb-australischen Zungenschlag, der sich kaum merklich in ihre Sätze eingeschlichen hatte. »Ich war schon immer neugierig, was es damit auf sich hat.«
Charley nickte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, dachte sie unwillkürlich. »Danke.«
»Ich habe gestern
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