Die Keltennadel
von hohem künstlerischem Wert wurden oft in so genannten Schreinen eingeschlossen – ein Kasten oder eine Truhe aus wertvollem Metall, verziert mit Edelsteinen.
Die Vision selbst ist eine eher schlichte Handschrift, die schwerlich wegen ihrer künstlerischen Ausführung so hoch geschätzt wurde, und doch wurde sie in einem emaillierten Goldschrein gefunden, auf dessen Deckel sich eine Schmuckarbeit befand, die vermutlich Namen und Herkunft des Verfassers darstellte. Es handelt sich dabei um eine Art keltische Brosche oder Gewandnadel, eingelegt mit Lapislazuli. Die Aufbewahrung des Buches in einem mit Juwelen geschmückten Schrein weist darauf hin, dass es verehrt wurde. Unsere Fantasie könnte uns an diesem Punkt zu der Annahme verleiten, dass die beschriebene Schmucknadel die goldgesprenkelte Iris von Gormans sehendem, in die Zukunft schauendem Auge symbolisierte.
Jane blätterte eine Seite weiter im Text, dann immer hastiger noch eine und noch eine, bis sie über einer Seite längere Zeit brütete. Sie hob den Kopf und blickte wieder nach unten, als könnte sie nicht glauben, was sie da las. Sie wälzte Vokabeln im Kopf, um sicherzugehen, dass sie alles richtig verstanden hatte. Dann klappte sie das Buch zu und eilte mit einem Blick auf die Uhr zur Kasse.
Eine Minute später kam sie aus dem Laden, und nach weiteren dreißig Minuten war sie auf dem Weg zum Flughafen, um nach Dublin zurückzufliegen.
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D er vielleicht merkwürdigste Anblick für einen Besucher mit christlichem Hintergrund im Katharinenkloster ist die Moschee innerhalb der Klostermauern. Und noch befremdlicher wirkt die Tradition, dass die Abtei von muslimischen Beduinen beschützt wird. Der Sage nach verfugten die Mönche sogar über einen Brief von Mohammed selbst, der ihre Sicherheit garantiert! Und im Gegenzug boten die Mönche Pilgern Schutz, die den Sinai auf dem Weg nach Mekka durchquerten.
Diese gütlichen Regelungen sind Teil einer Tradition, in deren Verlauf nicht nur der Islam dem Kloster Schutz gewährte, sondern auch die Kreuzritter des Mittelalters, das Ottomanische Reich der Türken, das zaristische Russland und neuerdings die Israeli und Ägypter. Wie kommt es, dass ein Ort, der unbezahlbare Kunstschätze beherbergt, von den Raubzügen der Kreuzfahrer wie der Janitscharen gleichermaßen verschont blieb?
Janes Flugzeug war soeben gestartet, sie saß an einem Fenster und übersetzte die Einleitung der Vision des Gorman. Sie tippte in ihren Laptop, den sie zusammen mit dem Buch auf dem Klapptisch aufgebaut hatte.
Wir glauben, dass die Antwort 1975 entdeckt oder, genauer gesagt, wieder entdeckt wurde. In diesem Jahr durchbrachen Bauarbeiter bei Renovierungsmaßnahmen im Kloster eine Wand und fanden dahinter einen erstaunlichen Schatz von dreitausend weiteren Handschriften und Kunstwerken. Zur Verwunderung der Bibelgelehrten waren darunter Dokumente in zahlreichen Sprachen, nicht nur der Region, sondern bis über Persien hinaus und sogar aus Fernost. Und von noch größerer Bedeutung, wie wir sehen werden, war ein Manuskript in der isolierten Halbunzial-Schrift des äußersten Westens, eine kalligraphische Besonderheit, die in den Schreibstuben von Irland und Northumbria entwickelt wurde. Es war dieses Buch, das die Patriarchen der griechischorthodoxen Kirche veranlasste, sich zu einem Konklave zu versammeln. Und das in der Folge die Aufmerksamkeit des Vatikans erregte und zum Gegenstand von geheimen Verhandlungen zwischen der ägyptischen Regierung und dem Heiligen Stuhl wurde.
Jane brauchte eine Pause. Es war anstrengend, den Text zu übersetzen und dabei gleichzeitig niederzuschreiben. Sie winkte einem Steward und bat um einen Gin Tonic. Wein würde sie nur schläfrig machen, und sie war entschlossen, die Übertragung bis zur Ankunft in Dublin fertig zu haben.
Die Mönche des Katharinenklosters wussten, dass sie ihren privilegierten Status einem Geheimnis verdankten, das von allen Konfessionen über die Jahrhunderte eifersüchtig gehütet wurde, bis ein Ereignis im 15. Jahrhundert die Mönche vorübergehend zum Verlassen des Klosters zwang. In einem Pogrom, das auf die koptischen Christen Ägyptens abzielte, brachen die mamelukischen Türken mit der Tradition und bedrohten die Klosterbewohner. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die wertvollsten Handschriften damals hinter der Wand versteckt wurden. Doch das Geheimnis des Katharinenklosters starb mit dem Abt, dem die Verantwortung oblag, es an seinen Nachfolger
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