Die Keltennadel
falls sich inzwischen nichts Neues ergibt.« Er sah auf die Uhr. »Es ist gerade halb eins vorbei, wie wär’s mit einem Sandwich?« Er deutete mit dem Daumen zum Pub.
»Gut, ich komme mit. Ich muss zwar noch eine Messe im Mädchencollege von Kilbride lesen, aber erst um drei.«
Sie bestellten am Tresen Suppe und Sandwiches und setzten sich in eine Ecke der Kneipe. Dempsey zündete sich eine Zigarette an, während sie auf ihr Essen warteten.
Lavelle nutzte die Gelegenheit zu einem privaten Gespräch mit dem Polizisten. »Wie viele Kinder haben Sie?«, fragte er.
»Zwei Söhne, Phelim und Cormac, und dann noch Grainne, unsere Jüngste, sie ist neunzehn.«
»Und was treiben sie alle?«
»Gehen alle aufs College, übers ganze Land verteilt. Susan und ich haben das Haus jetzt wieder für uns allein, jedenfalls während der Woche. Am Wochenende hat man das Gefühl, als würde die halbe Studentenschaft Irlands bei uns wohnen, sie bleiben die ganze Nacht auf, schlafen den ganzen Tag und fressen uns die Haare vom Kopf. Wir genießen es trotzdem, vielleicht weil wir wissen, dass sie Sonntagabend alle wieder verschwinden.«
Ein Barkeeper kam mit ihrer Bestellung. Dempsey drückte seine Zigarette aus. »Bedauern Sie es, keine eigene Familie zu haben?«
»Manchmal«, sagte Lavelle, »wobei das den meisten Männern nicht unbedingt als Erstes in den Sinn kommt, wenn sie sich zu einer Frau hingezogen fühlen, das ist bei mir nicht anders. Was Kinder angeht, habe ich genügend Neffen und Nichten, die mich auf Trab halten, und vielleicht wird es Priestern ja schon in naher Zukunft möglich sein, zu heiraten – falls bis dahin noch welche von uns übrig sind, denn wenn uns nicht der Mangel an innerer Berufung aussterben lässt, dann sind es die Pluralisten, die uns in etwa mit Medizinmännern gleichsetzen.«
Sie aßen einige Minuten schweigend, dann sprach Dempsey aus, was ihm durch den Kopf ging.
»Ich denke, wir wurden beide im Laufe der Jahre von gesellschaftlichen Veränderungen berührt, guten wie schlechten. Für mich war die negative Seite die allgemein zunehmende… Grobheit im Verhalten gegenüber anderen, in der harmlosesten Form ist es Rüpelhaftigkeit, in der schlimmsten ein Mangel an Achtung vor dem Leben oder vor dem, was wir früher als die ›Unantastbarkeit‹ des Lebens bezeichnet haben.«
»Da haben Sie wohl Recht. Aber jemand, der uns zuhörte, würde vielleicht sagen, dass man von einem Priester und einem Polizisten nichts anderes erwarten kann. Die müssen ja von Berufs wegen über einen Verfall der Sitten jammern.«
»Nur dass wir auf unserem Gebiet tatsächlich Spezialisten sind, in meinem Fall sind es Verbrechen, in Ihrem christliche Werte. Unser Blickwinkel beruht auf Erfahrung.«
»Womit stützen Sie also Ihre Behauptung – Statistiken, Studien und dergleichen?«
»Lassen wir den wissenschaftlichen Kram beiseite. Aus Zahlen können Sie immer dies oder jenes herauslesen. Ich rede nur über meine persönliche Sicht der Dinge. Ich habe erlebt, wie in den letzten zwanzig Jahren Grenzen überschritten wurden. Ich glaube, die Gewalt im Norden hat viele davon niedergerissen. Zum Beispiel dieser Zwischenfall in Belfast in den Achtzigern, als ein paar getarnte britische Soldaten mit ihrem Wagen versehentlich in ein IRA-Begräbnis gerieten und von der wütenden Menge angegriffen wurden. Erinnern Sie sich an das Foto, auf dem einer von ihnen tot und fast nackt auf der Erde liegt? In einem Moment bist du noch in deinem Auto, um dich herum ein kreischender Pöbel, Fernsehkameras nur ein paar Meter entfernt… fünf Minuten später liegst du zusammengeschlagen und ohne Kleider da, dein Henker setzt dir eine Waffe an den Kopf, und die ganze Welt kann dich in diesem bemitleidenswerten Zustand sehen… das hat gezeigt, wie rachsüchtig und bösartig wir sein können.«
Das Bild hatte sich auch in Lavelles Gedächtnis eingebrannt. Er sah den toten Soldaten auf dem Rücken liegen, die Arme ausgestreckt wie Christus am Kreuz. Und jemand beugte sich auf dem Foto über ihn. »Wissen Sie noch, da war auch ein Priester auf dem Foto«, erinnerte er Dempsey. »Alex Reid, der dem armen Mann die Sterbesakramente gespendet hat.«
»Was natürlich gut gemeint war«, sagte Dempsey, »aber von manchen dazu benutzt wurde, den Vorwurf der blanken Barbarei abzuschwächen – ›Seht her, im Grunde sind wir ganz anständig.‹ Zufällig spielt bei dem anderen Beispiel, an das ich oft denke, ebenfalls ein Priester eine Rolle.
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