Die Keltennadel
anderen Tochter ist bis unters Dach voller Tiere – Hunde und Katzen, sogar Schafe, Kühe und Schweine. Aber sie sehen alle nicht sonderlich glücklich aus, sie machen eher einen elenden und vernachlässigten Eindruck. Der Vater sagt nichts, aber als er durch die Stadt geht, kommt er zu einer Versammlung auf einem Platz. Die Stadtleute und die Bauern aus der Umgebung sind zusammengekommen, und sie sind alle sehr aufgebracht, weil jemand ihre Tiere gestohlen hat. Der Vater weiß sofort, was geschehen ist. Seine Tochter hat Haustiere und Vieh gestohlen und sie gewaltsam in ihr Heim geschafft, wozu sie natürlich kein Recht hatte. Aber war der Vater im Unrecht, als er seine Töchter aufforderte, Tierheime zu gründen?«
»Nein.«
»Wie hättest du ausgelegt, was von dir verlangt war?«
»So wie die erste Tochter, glaube ich.«
»Das denke ich auch. Aber ich wette, du kennst Mädchen, die es anders machen würden, vor allem, wenn sie meinen, sie erben dann das Vermögen ihres Dads.«
»Ich glaube schon.«
»Und so geht eben manchmal alles daneben. Aber die Idee war trotzdem gut, und manche Leute verstehen sie auch richtig. Wir sollten also die ursprüngliche Botschaft nicht verdammen. Klingt das vernünftig für dich?«
»Ja.«
Lavelle kam plötzlich zu Bewusstsein, dass er sich nach der Schule mit einem Teenager im gleichen Raum aufhielt. Er schob seinen Stuhl zurück und bereitete sich zum Gehen vor. Draußen wurde es bereits dunkel. »Wie kommst du nach Hause, Emily?«
»Ich hab mein Fahrrad dabei.«
»Ich hoffe nur, du hast ein Licht dran, die Straße zu dir ist gefährlich. Bis dann, Emily.«
Sie war schon halb aus der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte. »Manchmal fällt es mir einfach schwer zu glauben.«
»Ja, mir auch«, sagte er und langte nach dem Lichtschalter neben der Tür.
»Ehrlich?« Sie freute sich.
»Natürlich. Das geht allen so, auch Priestern.«
»Dann finden Sie also auch, dass alles manchmal so kompliziert ist?« Emily war inzwischen auf dem Flur.
»So ist es.« Er folgte ihr nach draußen und schloss die Tür hinter sich.
»Und haben Sie manchmal Angst, dass das Böse über das Gute siegen wird?«, sprudelte sie heraus.
»Ja, manchmal. Aber in solchen Zeiten denke ich immer an ein altes irisches Sprichwort: ›Alle Dunkelheit der Welt kann eine kleine Kerze nicht am Scheinen hindern.‹«
Emily dachte einen Moment darüber nach, dann lächelte sie ihn breit an. »Hey, das gefällt mir, das ist cool. Bis bald, Herr Pfarrer. Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Emily.«
Auf dem Parkplatz des Colleges setzte er sich in seinen Wagen und sah den Umschlag, den Jane ihm gegeben hatte, auf dem Beifahrersitz liegen. Er hatte gehofft, ihn beim Mittagessen durchlesen zu können, aber dann hatte er die Zeit im Gespräch mit Dempsey verbracht. Nach der Begegnung mit Bonner war er nicht in der Stimmung für weitere Prophezeiungen. Aber wenn es Jane Wade helfen konnte…?
Er schaltete das Leselicht ein und holte das geheftete Dokument aus dem Kuvert. Die Prophezeiungen waren nummeriert und erstreckten sich über rund zwanzig Seiten. Es gab keinen Hinweis auf ihre Herkunft, sie wirkten, als wären sie einem umfangreicheren Text entnommen worden. Es schien sich um die Schilderung einer Reise zu handeln, auf der dem Erzähler verschiedene Personen begegnen, mit denen er die zukünftige Geschichte der Welt und die Zeichen für das Ende diskutiert. Nachdem Lavelle die Seiten überflogen hatte, wusste er eines mit Bestimmtheit: Er hatte dieses Material noch nie gesehen. Und was ihm als ungewöhnlich auffiel, war, dass es sich bei dem Erzähler zwar eindeutig um einen Christen handelte, dass jedoch Vertreter anderer Religionen um ihre Ansicht gefragt wurden.
Wie bei prophetischen Schriften üblich, wimmelte es vor unklaren Andeutungen, obwohl…
Er holte einen Kugelschreiber aus dem Handschuhfach und strich einen Abschnitt von Prophezeiung 36 an:
Und an jenem Ort befand sich ein Jude, ein Arzt in Diensten eines christlichen Adligen… und er sagte: »Wenn mehr Kinder Israels in einer Generation zugrunde gehen, als bisher auf der Welt gelebt haben, und wenn ihre Leichen als Rache für die Kreuzigung von Christen zu Asche verbrannt werden… dann werden ihre überlebenden Söhne und Töchter den Anfang vom Ende sehen, bevor auch sie zugrunde gehen…«
Das klang wie eine Vorhersage des Holocaust, gefolgt vom Ende der Welt bis… 2020?
Er blätterte zurück zu Prophezeiung 3 und strich ein
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