Die Keltennadel
kurzen Augenkontakt heraus. Doch in diesem Moment rief jemand in der Nähe nach ihm. »Ulick. Ulick Mee.«
Er schaute in die Richtung der Stimme.
»Hallo, Tanya. Schön, dich zu sehen.« Er winkte einer jungen Frau zu und setzte seinen Weg fort.
Jane und Debbie sahen einander an.
»Ulick Mee!« Mit weit aufgerissenen Augen wiederholte Debbie den Namen.
Dann bekamen beide einen Lachanfall.
30
E s machte Rawlings nervös, dass er zum Briefkasten musste. Selbst hier in seiner Heimatstadt, wo er alle Leute kannte und wo ihm alles auffallen würde, was nicht an seinem Platz war. Ein Fremder. Selbst ein fremdes Auto. Er verließ sich auf sein Ortsgefühl, damit seine Antenne empfindlich für alles Ungewöhnliche blieb. Für alles, was nicht ins Bild passte.
Vielleicht war es dumm gewesen, nach Hause zu kommen. Sie würden es herausfinden.
Aber er fühlte sich hier sicherer als auf den Bürgersteigen New Yorks oder in einer einsamen Wohnung, wo man zusammenfuhr, wenn jemand an die Tür klopfte. Hier hatte er Nachbarn. Nette, gesetzte Menschen wie seine Eltern, die so erleichtert gewesen waren, als er den Klauen der Sekte entronnen war, dass sie ihn aufgenommen hatten, ohne Miete von ihm zu wollen oder ihn zu einem Job zu drängen. Gerade kam die alte Dame aus dem Nachbarhaus aus der Tür, warm angezogen für ihren Morgenspaziergang im Park.
»Guten Morgen, Mrs Schwarz«, rief er ihr über die Hecke zu, die den Fußweg zu den beiden Häusern trennte.
»Guten Morgen, Jerry. Wie geht’s?«, fragte sie und schloss die Tür.
»Danke, gut.« Seine Eltern waren für ein paar Tage bei der Schwester seiner Mutter zu Besuch, damit er in Ruhe an der Seminararbeit schreiben konnte, die er nie zu Ende gebracht hatte. Allerdings brachte er etwas ganz anderes zu Papier.
Er öffnete den Briefkasten und holte die Post heraus. Drei oder vier Briefe an verschiedene Mitglieder seiner Familie und eine Zeitschrift, die an ihn selbst adressiert war. Er prüfte sie sorgfältig und brummte zufrieden. Als er den Briefkasten schloss, tauchte Mrs Schwarz am Ende ihres Gehwegs neben ihm auf. In diesem Moment glitt ein Brief, den er zuvor nicht bemerkt hatte, unter der Zeitschrift hervor und fiel zu Boden.
»Ich helfe dir«, sagte sie freundlich.
Sein Blick fiel auf das Kuvert. Es waren Herzen darauf gezeichnet und gekritzelte Bruchstücke von Gedichten.
»Nein, Mrs Schwarz, lassen Sie ihn einfach liegen.«
»Oh, schau, es ist eine Valentinskarte. Wer, glaubst du, schickt dir die?« Sie hob sie auf. »Muss ein Mädchen aus dem Ort sein – da ist kein Stempel und keine Briefmarke drauf.« Sie befühlte das Kuvert.
»Es wäre mir wirklich lieber, wenn Sie…« Er begann zurückzuweichen.
»Aha, da muss auch was drin sein, es ist ein bisschen ausgebeult.«
Er wich immer weiter in Richtung Haus zurück, während Mrs Schwarz versuchte, ihm die Valentinskarte zu überreichen.
»Sei doch nicht so schüchtern, Jerry. Das ist doch nett, wenn man eine unbekannte Verehrerin hat.«
»Hören Sie, Mrs Schwarz, ich fürchte, da könnte etwas Schlimmes drin sein. Legen Sie es einfach zurück in den Briefkasten.«
Sie missverstand ihn. »Ach so, jetzt verstehe ich. Jemand, der dir einen Streich spielt. Der deine Gefühle verletzen will. Weißt du, was, ich werfe mal einen Blick hinein, und wenn es so ist, dann erspare ich dir das Schlimmste.«
Er konnte es nicht fassen. Er drehte sich um und eilte zur Tür. Diese Närrin.
»Es ist eine von diesen Musikkarten, glaube ich«, hörte er sie sagen. »Auf dem Kuvert sind lauter Herzen und Blumen, und da steht: Was vermisst du am meisten an jenen, die du geliebt und verlassen hast, wenn in der Dämmerung deines Lebens die Schatten näher rücken und dir nur noch die Erinnerung als Trost bleibt? Was ist das Eine, das dir immer in den Sinn kommt?… und dann macht man sie auf und –«
»Haa haa haa –«
Das pfeifende, schrille Schmettern eines Pappkarton-Clowns. Rawlings zog im Hauseingang den Kopf ein und erwartete, dass es jeden Moment einen Knall geben würde.
»Haa haa ha –«
Er wartete einige Sekunden, dann richtete er sich auf und drehte sich um.
»Ach herrje«, seufzte Mrs Schwarz und wollte die Karte gerade zuklappen.
»Was steht drinnen? Was sieht man?«, fragte er, legte seine Post auf die Eingangstreppe und ging den Gehweg zurück.
»Schau selbst, wenn du unbedingt willst«, sagte sie. »Ich mag es nicht laut sagen.«
»Okay, aber machen Sie die Karte nicht zu, ja?«
Sie hielt
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